Dieser Krimi entfaltet sich als intensiver Pageturner, der den Leser mit einer Mischung aus historischem Schmerz und tiefgründiger Gegenwartsanalyse fesselt. Nicolai Tegeler und Valeska Réon beleuchten mit einer berührenden Genauigkeit die Schattenseiten vergangener Traumata und deren Auswirkungen auf das Hier und Jetzt. Der kunsthistorische Bezug und die psychologische Tiefe bieten dabei viel Raum für Reflexion und regen dazu an, über Verletzlichkeit, Kindheit und zwischenmenschliches Verhalten nachzudenken.
In Rückblenden erleben die Leserinnen und Leser die Zeit der Judenverfolgung in Holland – Verrat, Enteignung, Deportation, Konzentrationslager und Kinderschicksale. Das Autorenduo stellt auf diese Weise die Verbindung zu diversen Protagonisten und Antagonisten her. Verknüpft deren unterschiedliche soziale Herkunft, Glaubensrichtungen, das individuelle soziales Gefüge, Charaktere und ihre zwischenmenschlichen Verbindungen mit der Gegenwart der 70er Jahre.
Schlussendlich sind es drei Themen, die eng und unmittelbar mit den sozial abweichenden Verhaltensweisen der potenziellen Täter in Verbindung stehen. Kindesmissbrauch, Intersexualität und das Anderssein an sich.
Wenn Kinderseelen immer wieder verletzt werden, das Urvertrauen in seinen Grundfesten erschüttert wird, und keiner die Kinder aus dieser Situation herausholt, gerät das innere Gleichgewicht dauerhaft aus den Fugen. Erfahren diese Kinder keine psychologische Hilfe, entwickeln sie, oft unentdeckt, einen tiefen Groll in ihrer Seele. Ihre Vergangenheit lässt sie nicht los, jahrelang nicht, fast nie – Traumafalle. Die seelischen Wunden eitern und verheilen nicht. Ein Pulverfass, ein brodelnder Vulkan, welches/welcher zu jeder Zeit, auch nach vielen Jahren noch, explodieren kann.
Echt schockierend, wie der schwelende Hass entfesselt, an die Oberfläche gelangt und die Gedanken der Täter fanatisch umschlungen hält. Erschreckend, wie gut durchdacht die Morde geplant, organisiert und durchgeführt werden – das Pulverfass, der Vulkan explodiert.
Mias Notizen berühren, haben mich nachdenklich zurückgelassen und geben Raum, darüber nachzudenken, wie wir zwischenmenschlich miteinander umgehen, wie verletzlich Kinderseelen sind und wie es sich auswirken kann, wenn sie gebrochen werden.
Aufgelockert wird das Ganze mit einer rasanten, turbulenten und sensiblen Liebesgeschichte, deren Protagonistin auch ihre ganz eigene Vergangenheit hat.
Ergänzend ist noch zu sagen, dass die Leserschaft im Zusammenhang mit den Morden viel Wissenswertes über die Malerei erfährt, auch wie Bildfälschungen sichtbar gemacht werden können und wie manche alten Meister, unter dem für das Auge sichtbaren Gemälde – andere, zum Teil wichtige Informationen, durch diverse Zeichentechniken, verborgen haben.
Gut beschrieben für die 70er Jahre auch das Asperger-Syndrom, welches ja schon seit Mitte 1920 bekannt ist, doch erst 1992 in das ICD der WHO aufgenommen wurde.
Alles in allem ein vielschichtiger, interessanter, gut geschriebener und spannender Krimi, der die dunkelste und grausame Geschichte des Zweiten Weltkriegs widerspiegelt und erkennen lässt, welche tiefen, seelische Wunden er gerade in Kinderseelen hinterlassen hat – es sind Wunden, die niemals heilen.
Chapeau Nicolai Tegeler & Valeska Réon
Heidelinde Penndorf
(Oktober 2024)
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