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Leseprobe: Als Du fortgingst - Tam Lang

     Leseprobe I 

 

Tag Null 

     Die Sonne ist warm, und du reckst dich ihr entgegen. Die Luft ist frisch. Vielleicht ein wenig zu frisch an diesem Samstag Mitte März. Es riecht noch nach Schnee. Zwar nur ein klein wenig, aber doch stark genug, um ihn zwischen all den Gerüchen – einem Gemisch aus Autoabgasen, Küchendunst, der salzigen Seeluft und dem Stinken der verwesenden Muscheln und Krabben am Strand – hindurch zu schmecken. Der Wind transportiert das Dröhnen der Schiffsmotoren und mit ihm einen Schwall stickigen, verbrannten Schweröls bis zu dir herauf. Dort unten legt man gerade ab. Du greifst in deine Tasche und holst dein uraltes Nokia heraus, entsperrst die Tasten und schickst eine Mitteilung an die Frau, die du liebst.

   Alles wirkt perfekt. Ein toller Tag. Ein wunderbarer Moment. Deine Gedanken schmieden Pläne für einen Kurzurlaub zu zweit. Mal kurz rüber nach København und die Stadt unsicher machen. Nur eine Nacht lang. Nur, um mit ihr ein bisschen raus zu kommen und euch beiden einen Moment Zweisamkeit zu gönnen, nach … – Ja wie lange eigentlich?

   Das Telefon vibriert in deiner Hand.

  13:26 Uhr: Ich freu’ mich auch. Ich liebe dich. Kussen!

   Mit breitem Grinsen steckst du das Handy wieder weg und gehst zurück in die Küche.

   Neue Gäste sind eingetroffen, und die willst du nicht enttäuschen.

***

   »Noch zweimal Ren!«, hallte es durch die Luke.

   »Noch zwei?«

   Eva, die junge Kellnerin, zog nur die Schultern nach oben, mit einem butterweichen Lächeln, das sowohl Freude aber gleichzeitig auch Stress und Anspannung verriet.

   »Du kochst. Die riechen das.«

   »Aber es ist doch noch nicht mal vier.«

   »Irre, nicht?«

   In deiner Tasche vibriert dein Telefon, und während du Salzflocken über das zarte Rentierfilet schneien lässt, ziehst du es dir ans Ohr.

   »Ja?«

   »Hi Papa.«

   »Hi Schatz. Alles gut?«

   »Du? Mama ist noch nicht zu Hause.«

   »Ist sie was einkaufen?«

   »Sie hat gesagt, sie müsste was machen.«

   »Na, dann kommt sie bestimmt gleich wieder.«

    Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

   »Zoe?«

   »Das war nach dem Mittagessen.«

   Deine Hand stockte in der Bewegung und ein Schwall fein abgestimmter Gewürze rieselte auf das Fleisch hinab. Ein Druck legte sich auf deine Lungen. Eine Ahnung.

    Etwas stimmt nicht.

   »Aber so gar nicht!«

   Nein, gar nicht.

   »Hast du sie schon angerufen?«

   »Da kommt nur der AB. – Papa, kommst du nach Hause? Jay ist auch schon seit einer Stunde wach und ich kann das einfach nicht alleine.«

   Die Synapsen in deinem Gehirn hatten ausgesetzt und lähmten dich. Eingefroren, wie die Fische im Gefrierfach, wartest du auf einen Impuls, der dich wieder in Gang setzen konnte. Der würde aber nicht von dir kommen. Konnte nicht von dir kommen.

   »Papa?«

   Der Impuls.

   »Was?«

   »Kommst du nach Hause?«

   »Klar Maus. Versuch’ noch mal sie anzurufen, ja?«

   »Okay.«

   »Bis gleich, Maus.«

   Was ist da los?

   In deinem Schädel rattern die Zahnräder. Gleich in die höchste Übersetzung geschaltet, schickten deine grauen Zellen Wahrscheinlichkeitstheorien durch die Windungen deines Gehirns.

   Nein. Das würde sie nicht. Oder doch? Quatsch!

   Eine Rauchschwade kräuselte sich von der heißen Grillplatte empor. Ohne sie zu registrieren, nehmen deine Augen sie wahr. Gleichzeitig kommen aber auch der süßliche Gestank von verbranntem Fleisch und das beißende Kratzen in Hals und Lunge. Alles verursacht durch verkohlten schwarzen Pfeffer. Das kannst du nicht ignorieren. Dein Körper reagiert mit einem Hustenanfall. Er weckt dich aus deiner Trance und schaltet einen Gedanken frei.

   Zoe wird noch mal anrufen. Sie schneit bestimmt gerade wieder zu Hause rein. Komm schon, du hast Gäste!

   Wieder das bekannte Vibrieren. Ein schneller Blick aufs Display. Zoe! Dein Herz schlägt schneller.

   »Ja?«

   »Mama geht nicht ran.«

   »Nur der AB?«

   »Ja.«

   Jacke an! – Scheiß auf die Hygienevorschriften!

   Die Kellnerin, beladen mit einem Stapel Tellern, huscht an dir vorbei. Ihr Blick ist fragend, deiner starr voraus.

   »Tom?«

   Du hörst deinen Namen nicht.

   »Tomas?!«

   Du steckst das Telefon weg und deine Schritte werden größer.

   »Sam!«

   »Oui, Chef?«

   »Schmeiß’ den Laden!«

   »Hä?«

   Keine Zeit für Worte.

   Du erreichst die gegenüberliegende Straßenseite. Hinter dir brüllte Sam, dein tüchtiger syrischer Fast Food-Koch – mit so viel Talent für la cuisine – gegen den Verkehr an. Was, hörst du nicht.

   Deine Schritte beschleunigen sich, als du den harten Bürgersteig unter deinen Füßen spürst, anstatt des Schneematches, auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Du gehst über den verlassenen Hof der Centralskola. Der direkteste Weg. Dahinter der kleine Stadtpark mit dutzenden von schnatternden Enten und gackernden Hühnern, die sich auf das Futter stürzen, welches der städtische Parkpfleger gerade weiträumig verstreut. Tauben und Möwen stoßen dazu und machen das Durcheinander perfekt. Dein Weg führt mittendurch. Wildes, zankendes Geschrei der Möwen, die jetzt auseinanderstieben, sich in die Lüfte schwingen und einen Schwall Kot auf den überrumpelten Tierpfleger herabregnen lassen. Wütende Schreie seinerseits. Von dir: keine Regung.

   Weiter!

   Die Holzdielen der kleinen gebeizten Brücke über der künstlich angelegten Teichlandschaft sind nass und rutschig. Die Sohlen deiner Küchenschuhe: rutschfest.

   Immer weiter!

   Wieder ein Sandweg. Er schlängelt sich durch Reihen von Nadelbäumen und der Krawall hinter dir verstummt. Vor dir der Straßenlärm der Bushaltestelle. Es ist Rushhour! Wuselnde Menschen, die ein- und aussteigen.

   Mittendurch!

   Wieder Flüche, die dir folgen. Vor allem, als du am Zebrastreifen nicht anhältst, so wie alle anderen, um dem Bus die Vorfahrt zu lassen. Wohl zum ersten Mal kommt hier ein Bus wirklich zum Stehen. Nur ein paar Zentimeter von dir entfernt. Roboterhaft schraubt sich dein Kopf zur Fahrerkabine hinauf. Das Gesicht des Fahrers ist leichenblass.

   Weiter!

   Deine Augen suchen in den Seitenstraßen nach ihr, doch kein Gesicht, kein Gang, keine Haarfarbe ähnelt ihr. Ein Blick hinüber zur Tankstelle.

   Auch nichts! Weiter!

   Die Straße hinauf. Nun ist es ein einziger gerader Weg, der noch vor dir liegt. Kinder, froh, dass die Schule aus ist, kommen dir in Gruppen entgegen. Die Massen teilen sich um dich herum, wie das Meer es für Moses tat. Fragende Blicke und Kopfschütteln. Ein Halbstarker macht dir keinen Platz. Er will sich aufbauen und unter dem Lachen und Anfeuerungen seiner Kumpels dir den Weg versperren. – Deine Schulter ist stärker, der Drang voraus intensiver und dein Körper vollkommen schmerzfrei. Ein dumpfer Aufprall beendet sein posendes Getue. – Er fällt. – Du marschierst.

   Eine Ecke noch!

    Vor der Haustür stoppen deine Beine. Plötzlich und unerwartet. Sie schlagen förmlich Wurzeln. Durch die Betonplatten hindurch, hinein in den lockeren Lehmboden bis hinunter in den Fels, auf dem die Kleinstadt erbaut worden war. Jeder Muskel in deinem Körper wehrt sich dagegen, sich der Realität, ob gut oder schmerzlich, zu stellen.

    Die Haustür ist nicht abgeschlossen.

   »Ein gutes Zeichen?«

    Sie ist wahrscheinlich schon hinter der Tür oder spielt mit den Kindern.

   »Richtig. Nie würde sie die Kiddies alleine lassen und die Tür nicht abschließen.«

   Würde sie doch nicht, oder?

   »Quatsch! Natürlich ist sie da. Nun geh schon rein!«

    Der Befehl an die Beine bleibt unbeantwortet und dein Magen zieht sich zusammen. Das Telefon in deiner Hosentasche vibriert.

   Sam.

   »Chef, alles in Ordnung?«

   »Kriegst du das hin?«

   »Klar doch. Wer hat mir denn alles beigebracht.«

   »Super Sam. Ich rufe nachher noch mal durch.«

    »Geht klar.«

    Gedankenverloren steckst du das Telefon zurück. Tief saugen seine Lungen die kalte Luft in sich ein und deine Hand erreicht bei vollem Volumen den glänzenden Türgriff. Er ist kalt. Eiskalt. Deine Hand verkrampft sich um ihn und eine verirrte Schneeflocke setzt sich auf deine blauen, blutleeren Knöchel. Sie schmilzt nicht sofort. Du atmest aus, während du den Türgriff hinunterdrückst.

***

     Die Zeichen sind eindeutig. So eindeutig, dass dir schwindelig wird. Der Türgriff an der Badezimmertür zu deiner Linken, an dem ihre lila Handtasche, groß und unübersehbar, zu prangen pflegte, ist verwaist. Leise gleitet die Haustür hinter dir ins Schloss. Deine Muskeln zucken beim ›Klack‹ zusammen und halten dich so in der Wirklichkeit.

   »Mama?«

    Zoe poltert die Stufen hinunter, biegt um die Ecke und bleibt mit offenem Mund vor dir stehen. Was gerade noch ein warmes lächelndes Engelsgesicht war, verwandelt sich in Asche. Ihr fragender Blick wird zu einem wissenden und du siehst dem schnellen Herzschlag zu, der wild gegen ihren Hals schlägt. Zoes Augen werden groß und Wasser sammelt sich in den Winkeln. Sie schüttelt den Kopf, als sie realisiert, dass nur du es bist, und ihre Lippen formen stumme Worte.

    Du brauchst nur einen Schritt, dann hast du sie in deinen Armen. Du fängst sie auf, da ihre Knie weich werden. Sie taumelt nur leicht, aber für dich fühlt es sich an, als ob sie zusammenbricht. Während dein stetiger Puls sie zu trösten versucht, dringt das helle Kichern von Miko und Jay zu dir durch. Sie sitzen oben vor der Wii. Tief ins Spiel vertieft. – Wie immer. –Es tröstet dich ein wenig, dass es so ist. So … normal.

    Zoe trocknet ihre Tränen an deiner Brust und dein Blick wandert zu ihr. – Ein wenig Farbe.

   »Sag irgendwas!«

   »Sie kommt schon wieder.«

    Ihre Augen treffen auf deine und du kannst das Wort ›Lügner‹ in ihnen lesen.

   »Sicher?«

   »Ich hoffe es.«

   Einen Moment lang versucht sie, deine Seele zu lesen, dann löst sie ihren Blick und mustert dich von Kopf bis Fuß.

   »Geh duschen Papa. Du stinkst nach Küche.«

   »Tu’ ich?«

   Sie nickt und löst ihre Umarmung.

   »Kann ich kurz alleine sein? In meinem Zimmer?«

   »Immer Schatz.«

    Niedergeschlagen ist ihr Gang. Als drückte sie eine unendliche Last. Eine, die auch du spürst. Schwer und zermalmend.

***

     Eigentlich willst du die Wohnung erkunden. Dein Kopf sucht nach Anhaltspunkten. Nach Beweisen. Nach Gewissheit. Dein Verstand aber lässt dich deiner Tochter folgen. Sie braucht dich, das fühlst du. Als sie sich im Türrahmen zu dir umschaut, versucht sie noch ein gequältes Lächeln. Es ist ein Bild, das sich in dein Hirn brennt.

      Es sollte ihr vorerst letztes Lächeln sein.

     Die Tür schließt sich lautlos und du drehst dich zu deinen beiden kleinen Kindern um, die dich noch nicht gesehen haben. Du nimmst sie in den Arm.

    »Papa!«

    »Na ihr Süßen?«

   »Jay hat eingekackt!«

     Deine siebenjährige Tochter hält sich die Nase zu, während Söhnchen mit seinem typischen Dackelblick zu dir aufschaut.

    »Hast du?«

     Er nickt.

    »Na, dann machen wir dich mal schnell sauber.«

    »Ich will aber weiterspielen.«

    »Kannst du gleich.«

     Die Handgriffe sind Routine. Noch bevor du die Windel im Eimer entsorgt hast, gackern die beiden schon wieder um die Wette, während sie Mario und Luigi mit ihren Hinterteilen Pilze zerquetschen lassen. Normalität.

    Zurück im Untergeschoss ist aber wieder gar nichts normal. Die Leere erdrückt dich förmlich. Du fühlst sie von überall her. Wie Schatten dringt sie aus den Ecken auf dich ein. Kalt wie der Tod. Sie breitet sich in der Wohnung aus und nimmt mit jedem Schritt, den du tust, ein Stück mehr Raum ein und erschwert dir das Atmen.

    Im Schlafzimmer flammt die Hoffnung plötzlich wieder auf: Ihre Sachen liegen noch im Schrank. Sie konnte also nicht einfach so weg sein. Doch ihre leer gefegte Seite im Spiegelschrank hämmert dir dann die Gewissheit des Gegenteils ins Herz.

   Kraftlos lässt du dich in die Kissen des Sofas gleiten – und da ist auch der Zettel, den du eigentlich niemals finden wolltest:

   »Sorry. Ich muss das machen. Ich kann nicht mehr. Ich weiß, ich bin egoistisch und eine blöde Kuh und wer weiß was sonst noch. Es tut mir leid.

    Wenn da noch etwas Mut in dir vorhanden war, verkroch sich der Rest in deinem tiefsten Inneren.

    Ihr Wohnungsschlüssel ruht in deiner Hand. Doch überraschenderweise zittert sie nicht, auch wenn dir sein Gewicht immens vorkommt. Hinter dir zählt die Uhr die Sekunden herunter. Es vergehen Minuten, bevor du das registrierst. Ebenso, dass deine Hand schon eigenständig die Nummer deiner Frau getippt hatte und dein Daumen auf dem grünen Knopf deines Handys lag, realisierst du erst jetzt. Du starrst darauf. Ein sanfter Druck. Warten.

   »Mama ...«

    Es war der AB. Er sprang sofort an. Noch vor ein paar Tagen hattest du mit ihr darüber gescherzt, wie irritierend der Ansagetext war. Es war Jay, der das ›Mama‹ rief. Jeder der anrief, brabbelte sofort darauf los. Jeder grüßte und war eigentlich schon dabei zu fragen, wie es einem gehe. Dann kam der Piep, vollkommene Fassungslosigkeit, und erst dann kapierte man, dass es die Aufforderung war, eine Nachricht zu hinterlassen.

   Das geschah dir nicht mehr.

 

*** 

    Leseprobe II   

›Ritzen‹

     Dein Körper überflutet dich mit allen Absurditäten, und du siehst das große Messer in der Spüle mit völlig anderen Augen. Der blanke, hart geschliffene Stahl der überteuerten japanischen Klinge ist so klar, so friedlich, so einladend. Du nimmst es in die Hand und der Griff schmiegt sich wie eine Konkubine in deine Handfläche. Er verschmilzt vor deinen Augen mit ihr. Er wird eins mit dir. Die Klinge streichelt deine Haut und lässt einen wohligen, warmen Schauer über ihre Oberfläche wandern. Lüstern spannt sie sich, öffnet ihre Poren und will sie empfangen, sie aufnehmen, wie eine lüsterne Frau, die ihre Beine spreizt. Der Druck wächst und dann nimmt sie dich. 

     Voller Erlösung spürst du, wie sie in dich eindringt und dein Körper den roten Lustsaft ausschüttet, um das Gleiten zu erleichtern. Die Klinge löst sich von dir, hebt sich, nur um dann abermals, und an anderer Stelle, dasselbe transzendente Lustgefühl herauszufordern. Es gelingt und die Anmut dieses zweiten Moments steht dem ersten in nichts nach. Sämtliche Gedanken verschwinden aus der Welt. Einzig die Erlösung bleibt.

 

– Ende der Leseproben –


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