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Leseprobe: 4 gegen den Klan - Sidney Rose

 

   

      Harold Jordan: Prolog zwischen Blut und Broadway 

     Eine widerspenstige, blonde Haarlocke fällt Esther in die Stirn und kitzelt meine Nase, während sie mir mit einem    Kuss ihrer süßen Lippen beinahe die Luft raubt. 

     »Hal, ich werde warten! Pass auf dich auf, ich liebe dich!«

   Ihre blauen Augen schimmern verdächtig, aber sie ist ein tapferes Mädchen. Wir haben beide schon viel durchgemacht, da werden wir auch den Krieg überstehen. 

   »Mein Darling, ich verspreche: Ich kehre zurück!«

   Ich ziehe Esther fester in meinen Arm, atme ihren betörenden Veilchenduft und spüre den ungestümen Rhythmus ihres Herzschlages. 

   »Frisch verliebt, was?«, scherzt einer der anderen Soldaten der New Yorker Liberty-Division. 

   »Nein«, entgegnet Esther, »verheiratet, seit über einem Jahr!« 

   Ich muss lächeln, denn wir lieben uns wie am ersten Tag.

~ 

   »Granate, Captain!« 

   Ich werfe mich nieder. Nasser Boden prasselt herab. Ich habe jedes Mal Angst davor, verschüttet zu werden und dadurch ein qualvolles Ende zu finden. Die deutschen Geschütze feuern aus allen Rohren. Der Soldat neben mir hat es nicht geschafft. Ich greife nach ihm und wühle in heißer Erde. Ein kleiner Fetzen eines Fotos schwebt herab: Er zeigt das lächelnde Antlitz einer hübschen Frau, die noch nicht weiß, dass sie ihren Soldaten nie mehr wiedersehen wird. 

   Schwarzes Dickicht der Argonnen, rot durchtränkt von den dampfenden Gedärmen unserer zerfetzten Jungs – den doughboys – wie man uns amerikanische Infanteriesoldaten nennt. Spätsommer 1918, Frankreich, unser Vormarsch gegen die schwerste Verteidigungslinie der Hunnen. Wobei das die harmlosere Bezeichnung für die deutschen Soldaten ist. Beim Anblick der Überreste der New Yorker, mit denen wir vor Monaten die lange Überfahrt von Camp Upton in dieses Land unternahmen, nennen wir sie Boche – Scheißdeutsche. 

   Viele von uns werden niemals nach New York zurückkehren. Die große Winterparade am Geburtstag von George Washington stellte für die Gefallenen nun ein Lebewohl dar. Der Schnee, der damals auf unseren stolz glühenden Gesichtern dahinschmolz, ist für diese Soldaten zu Abschiedstränen geworden. Ich bin ihr Captain und konnte meine Jungs trotzdem nicht vor ihrem grausamen Tod bewahren.

   Die Luft scheint noch immer vom deutschen Geschützfeuer und der Explosion von Granaten zu vibrieren. Nach ihrem jüngsten Angriff gelang es uns, das letzte feindliche MG-Nest auszulöschen. Wir waten knöcheltief im hunnischen Blut, das sich in den Gräben sammelt.

   Die harten Kerle aus der Lower East Side sind gemeinsam mit den Bubis aus Upper Manhattan gegen das mörderische Feuer angestürmt: rennend, schießend, sich in den Schlamm werfend, sterbend. Wer nicht in Stücke gerissen wurde, stürzte sich in die Verschanzung und feuerte so lange, bis von den deutschen Schützen nur noch ein zuckender Haufen blutender Leiber übrig blieb. Kein Boche, der nicht mindestens fünfzig amerikanische oder französische Kugeln im Körper hat.

   Niemand von uns spricht ein Wort. Wir stechen die Bajonette in Herzen, Köpfe und Hälse der umherliegenden Hunnen und ich führe die kleine Einheit des 306. Infanteriebataillons über den Berg, der nach vielen Jahren deutscher Besetzung in unsere Hände gefallen ist. Die anderen dieser Brigade operieren an derselben Linie und hatten offensichtlich ebenfalls Erfolg, denn auch von dort ist kein feindliches Feuer mehr zu hören.

   Wir rutschen den Hang hinunter, halten uns schussbereit und decken unseren Abstieg, denn keiner weiß, ob irgendwo noch mehr Truppen lauern. Doch niemand greift an. Hier unten ist es beinahe windstill, einzelne Vögel lassen ihr Lied erklingen.

   Staunend stehen wir vor den deutschen Verschanzungen, die wohl über zwanzig Fuß tief in den Hang getrieben und an drei Seiten mit Baumstämmen verbaut sind. Die Vorderseiten ähneln gewöhnlichen, schmucken Holzhäusern mit Säulen und Geländern. Auf großen, geschnitzten Tafeln lesen wir die Namen ›Siegfrieds Ruh‹, ›Kriemhilds Heim‹, ›Waldhaus Martha‹.

   Das Waldhaus war ein Biergarten. Halbgefüllte Gläser und nicht geleerte Teller stehen auf den Tischen. Die Notwendigkeit zur Flucht hatte die Hunnen wie ein Blitzschlag ereilt. Jahrelang haben sie hier gehaust und ihre Kampflinie ausgebaut.

   Ich entdecke sogar eine Bibliothek. Diese künstliche Idylle, erschaffen aus dem Wunsch, auch im Krieg ein weitgehend ›normales‹ Leben führen zu können, wirkt gespenstisch. Die Sonnenstrahlen tasten sich bis weit in den Berg hinein und die kunstvollen Buchrücken schimmern mit goldenen Lettern. Hier gibt es nicht nur deutsche Klassiker, sondern darüber hinaus Bücher von englischen Autoren.

   Eine zusammengesunkene Gestalt an einem der Tische wird von Fliegen umschwirrt. Der zerlöcherte Kopf liegt mit der Stirn auf ein Buch geneigt.

   »Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate! – Lasst,die ihr eintretet,alle Hoffnung fahren!«, steht am oberen Ende der aufgeschlagenen Seite. 

   Das getrocknete Blut verdeckt die folgenden Verse. Der rechte Arm mit der Waffe in der Hand ruht auf dem Tisch. Dieser Offizier konnte nicht damit weiterleben, dass seine Zeit vorbei war – und richtete sich offensichtlich selbst.

   Ja, wir treffen uns alle vor dem Höllentor wieder, ob Boche oder doughboy. Denn was wir getan haben, verwehrt uns den Eintritt in den Himmel. Ich las einmal irgendwo, dass am jüngsten Tag nur die Taten zählen werden, und die unterscheiden uns nicht von denen unserer Feinde.

~ 

   »Captain Harold Jordan, bevor Sie die 153. Infanteriebrigade im Rahmen der Ausmusterung der 77. Division verlassen, müssen wir Ihnen eine furchtbare Nachricht überbringen. Ihre Ehefrau fiel gestern Nacht einem Gewaltverbrechen zum Opfer.« 

   Ein Rauschen überflutet meine Sinne wie eine riesige Ozeanwoge. Ich taumle gegen die Wand des Stabsoffice. Da habe ich die Hölle der Westfront überlebt, weil ich nur an mein Versprechen dachte, dass ich zu meiner geliebten Esther zurückkehren würde, und nun soll sie tot sein? Ermordet, mitten im Frieden?

   Die Worte über Ehre und Heldenmut ziehen bedeutungslos an mir vorbei. Schweigend nehme ich ein paar Orden in Empfang, finde kaum Kraft, die mir entgegengestreckte Hand zu drücken.

~

   Ich laufe wie hypnotisiert zu unserem Appartement in der 34sten Straße. Ein Stück Treppengeländer ist herausgebrochen, die Tür eingetreten. Auf dem Boden liegt einer der langen, etwa armdicken Pfosten, der anscheinend von aufgesogenem Blut dunkel gefärbt ist.

   Die gesamte Wohnung wurde verwüstet, unsere Sachen liegen zertrampelt und zerschlagen überall verstreut. Ich will mich nach einem Foto bücken, auf dem ein schönes, glückliches Hochzeitspaar zu sehen ist, aber ich kann die unsichtbare Wand vor dieser vergangenen, verlorenen Welt nicht durchbrechen.

   Mitten auf dem Teppich im Schlafzimmer ist alles voller angetrocknetem Blut. Hier muss es passiert sein. Die kleinen Kristalle ihrer zerrissenen Halskette funkeln wie verlorene Sterne aus dem widerlichen Dunkel der verkrusteten Flecken. Ich nehme nichts aus der Wohnung mit. Jeder Gegenstand, der ihr gehörte oder dem glücklichen Paar, das hier vor dem Krieg gelebt hat, würde mich nur aufs Neue in ein bodenloses Loch stürzen. Ich schleppe mich aus der Wohnung, sinke auf die Stufen und erstarre in Verzweiflung.

~ 

   Wie viele Jahre sind vergangen? 

   Ich weiß es nicht. 

   Woher kenne ich dieses verrückte Mädchen, das sich mit ihrem bleichgepuderten Gesicht, den schwarzen Augen und dem tiefroten Mund in meine wenigen klaren Momente drängt?

   Ich habe es vergessen.  


 

Garçonne: Ein heldenhaftes Häufchen Elend 

 

   Ein Mann lag vor mir auf dem Holzboden der Kneipe. Ich war im Stress, hatte selbst den Schmuggel-Alkohol geliefert und wollte nur mit dem Wirt den hooch so schnell wie möglich vom Truck laden.

   Deshalb stieß ich dem Knaben derb meine Stiefelspitze in die Rippen. 

  »Der wollte gehen, kippte dann einfach um. Ich hab ihn erstmal liegen gelassen«, brummte der Wirt.

   Als sich der Typ nicht regte, packten wir an und zogen ihn aus dem Weg an die Wand. Es klimperte und ein Haufen glänzendes Blech fiel aus seiner Manteltasche.

  Der Wirt besah sich das Zeug und nickte anerkennend.

   »Da haben wir ja einen richtigen Helden vor uns!«

   Ein Held? Ja, genauso hab ich mir einen Helden auch immer vorgestellt: total zugedröhnt und stinkend, als hätte er meinen gesamten Brandybestand ausgesoffen. Was ist das für ein Kerl? Ich brachte es aus irgendeinem Grunde nicht über mein dunkles Herz, unseren ›Helden‹ draußen im Schnee abzuladen. Stattdessen schleppten wir ihn ins Hinterzimmer und schmissen ihn auf die Pritsche. 

   »Lass ihn liegen und sich auspennen! Wenn er wach wird, gib mir Bescheid!«

   Der Wirt nickte und reichte mir schäbiges Gepäck.

   »Das muss von unserem Helden sein, stand noch unter dem Tisch, an dem er die ganze Nacht verbracht hat!«

   Ich ließ mich neben dem Typen auf die Bettkante fallen und öffnete die große Tasche. Verdammt, es sah so aus, als ob der Krieger hier kein Dach über dem Kopf gehabt hätte und mit seinem erbärmlichen Haufen Zeug durch die Kneipen zog.

   Im kleineren der beiden Koffer verbarg sich – eine schmucke Schreibmaschine: Remington Typewriter. Das passte gar nicht ins Bild. Ein Veteran, der völlig fertig war und seine Annalen schrieb? Ich zog ihm seinen Mantel aus und entdeckte darin ein Pappkärtchen mit seinem Bild. 

   ›Harold Jordan – New York Herald‹ stand dort aufgedruckt. Ich erkannte ihn kaum wieder. Der Kerl sah tatsächlich einmal aus wie ein normaler Mensch. Ein Journalist? Ich habe eine Schwäche für alle, denen das Schicksal so richtig in den Arsch gefickt hat. Das liegt vielleicht daran, dass es mich nicht besser erwischt hatte. Auch meine Girls in der Gang könnten solche Geschichten erzählen, denn wir alle sind irgendwann mit der Wurzel ausgerissen und auf den Müll geworfen worden. 

   In der Innentasche steckte ein abgegriffenes Foto. Auf dem Stempelabdruck der Rückseite erkannte ich die Jahreszahl 1917. Ich blickte in das lächelnde Frauengesicht auf dem Bild. Sie sah verdammt hübsch aus – und glücklich. Aber ich fühlte es, dass dieses Glück erloschen war. Es ging nicht einfach aus wie eine runterbrennende Kerze, sondern wurde brutal erstickt. Ein Schauer durchfuhr mich.

   Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht. Ich fand einen kleinen, zerknitterten Zeitungsartikel. Nur wenige Zeilen war sie wert: »Brutaler Raubmord in der 34sten Straße ... Eine junge Frau wurde wegen ein paar Dollars und etwas Schmuck von einem Schwarzen vergewaltigt und starb noch in der Wohnung an ihren schweren Verletzungen. Der mutmaßliche Täter wurde von der Polizei erschossen, als er vom Tatort flüchten wollte.« 

   Ich schluckte einen bitteren Kloß herunter und wusste jetzt, was hier passiert war. Obwohl ich Kerle nicht ausstehen kann, habe ich bei diesem Mister Jordan eine Ausnahme gemacht. 


 

Harold Jordan: Eine Kindheit im Süden 

 

   Die weit aufgerissenen Augen in Jims schwarzem Gesicht musterten mich mit schreckhaft aufblendendem Weiß, während hellrotes, dünnflüssiges Blut von der Klinge seiner Machete auf den spiegelnden Parkettboden tropfte. 

   Ich hatte meine kleine Schwester Emmy greinen hören und mich eilig zum Altan begeben. Als ich dort anlangte, war das feine Stimmchen verstummt. Aus dem Korbgeflecht ihrer kleinen Wiege fielen rote Tropfen herab. Die Sterne und Streifen der Confederate flag, mit der sie unsere Eltern als stolze Südstaatler zuzudecken pflegten, waren bis über das Kopfende gezogen. 

   Bevor sich Jim einen weiteren Schritt auf mich zu bewegte, lud ich die Winchester durch, so wie es mir mein Vater vor ein paar Monaten beigebracht hatte. Ich wusste nicht, was mich dazu veranlasste, die Waffe von der Wand genommen zu haben und damit beinahe lautlos die Treppe heraufzusteigen. Vielleicht lag es daran, dass Emmys Weinen so verängstigt, ja schrecklich geklungen hatte. Jim war schweißüberströmt und starrte mir in die Augen. Weder er noch ich glaubten daran, dass ich den Abzug betätigen würde.

   Bei der nächsten Vorwärtsbewegung seines Fußes drückte ich jedoch ab. Ich erschrak vor der Lautstärke des Knalls, der im Haus viel stärker war als bei den Schießübungen im Wald. Ich zuckte vom Rückstoß zusammen, von den heißen Blutspritzern, die mir auf die Wangen prasselten, und schloss die Augen vor dem Grauen, das ich angerichtet hatte.

   Aber die Angst, dass sich Jim noch immer mit der Machete auf mich stürzen könnte, war stärker als die Furcht vor dem Elend meiner Tat. Ich riss die Augen auf. Jim war bis zum Fenster zurückgeschleudert worden und hielt sich dort taumelnd auf den Beinen. Im Gesicht klaffte ein großes Loch. Krampfhaft umfasste seine herabhängende rechte Hand die Machete.

   Ich zitterte, meine Knie wurden weich und ich sank an die Wand gepresst herab. Endlich fiel die Klinge polternd auf das Parkett. Jims schwerer Körper schwankte stärker, er kippte nach vorn und schlug mit dem Kopf kurz vor mir auf den Boden. Entsetzt drängte ich mich zurück, bis mein Rücken schmerzte.

   Ich starrte auf Jim, der röchelnd im Sterben lag. Aus seinem Kopf strömte unglaublich viel Blut. Es kam rasch näher. Meine nackten Füße in den offenen Schuhen standen bald in einem See von Blut. Ich traute mich nicht, die Zehe oder gar die Beine zu bewegen. Die rote Lache erschien mir als etwas Lebendiges, das nur darauf wartete, mich in die Tiefe zu reißen.

   Verzweifelt blickte ich zum Fenster, wo kein Geräusch mehr aus der Wiege drang, keine Bewegung zu erkennen war, bis auf das lautlose Herabfallen der kleinen Blutstropfen, die sich durch die Strohrauten zwängten.

  Irgendwann kam mein Vater nach Hause. Er war oft unterwegs als ein Anführer der Red Shirts – der waffenstarrenden Ehemänner, Väter, Großväter und jungen Kerle – die kompromisslos die schwarze Mehrheit im Staate mit allen Mitteln bekämpfte.

   Er stapfte die Treppe herauf und fand mich. Ich musste stundenlang regungslos neben der Leiche auf dem Boden gesessen haben.

   Mein Vater tat etwas, woran ich nur noch verschwommene Erinnerungen aus Babytagen in mir trug: Er hob mich hoch auf seine Arme.

   »Du bist ein tapferer Junge! Hättest du den Nigger nicht erschossen, wäre jetzt nicht nur meine Tochter, sondern auch du tot. Ich habe mich jahrelang in dir getäuscht, mein Sohn. Das war ein Fehler.«

   Er war das erste Mal stolz auf mich und dieser Stolz gab ihm die Kraft, die Überreste meiner kleinen Schwester in die Confederate flag zu hüllen. Ich durfte Emmy nicht noch einmal sehen.

~ 

   »Mister Jordan, bleiben Sie unten!« 

   Ich will meinen Oberkörper aufrichten, werde aber gewaltsam zurück auf das Laken gepresst.

   »Verdammt, Schwester, die Narkose war nicht stark genug!«

   Mein Bein tut höllisch weh und ich sehe, wie sich der Arzt mit seinem kleinen Messer in meinem Fleisch zu schaffen macht. In einer Metallschale ballt sich ein Haufen zerknüllter, blutdurchtränkter Tücher. Ich will etwas sagen, bekomme jedoch kein Wort heraus. Meine Kehle ist staubtrocken und brennt wie Feuer. Da spüre ich den Einstich der Injektion im Arm. Sofort werde ich von lähmender Schwere niedergedrückt und versinke erneut im Albtraum meiner Kindheit, North Carolina 1898 ...

~ 

   Vater sagte, Emmy sei direkt zu den kleinen, lachenden Engeln in den Himmel gefahren, mit denen sie nun spielen könnte und von oben auf uns herabschauen würde. 

   Meine Mutter schleppte sich weinend mit gekrümmtem Körper durch das Haus. Sie war nicht stolz auf mich, sondern kannte nur die Trauer um das Baby und den verlorenen Sohn, der zu einem Mörder geworden war. 

   Die Beerdigung der kleinen Emmy wurde von den Red Shirts erbarmungslos für ihre Propaganda missbraucht. Zwischen zahllosen Musketen mit aufgepflanzten Bajonetten trugen sie den kleinen Sarg, bedeckt von der Confederate flag, in einem Meer von roten Blumen.

   Niemand sprach von der grausamen Hetzjagd, mit der die Plantagenarbeiter monatelang in Todesangst versetzt worden waren. Beinahe jede Woche gab es ein blutiges Opfer unter ihnen. Als Jim die Ermordung seiner Frau angekündigt worden war, drehte er durch. Er nahm sich eine Machete, ging ins Farmhaus, und wollte uns alle töten, bevor wir seiner Familie etwas antun würden. Das grausame Schicksal wollte es so, dass er zuerst auf die hilflose Emmy traf. Seine verzweifelte Wut ließ ihn das Unentschuldbare tun, das über seiner Sippe das Todesurteil verhängte.

   Am Abend der Beerdigung richtete mein Vater auf seiner Farm ein gewaltiges Barbecue aus. Alle Red Shirts aus der Umgebung waren mit ihren Familien eingeladen.Sie sangen Lieder, spielten Mundharmonika und niemand hätte diese Männer für Schläger, Entführer und Killer gehalten.

   Das heiße Fett der Steaks tropfte in ein prasselndes Feuer. In den zischenden Flammen verbrannte die armselige Habe von Jims ermordeter Familie. Mein Vater, der von allen nur Big Red genannt wurde, und seine Kumpane waren mit Gewehren in die ehemaligen Sklavenhütten gegangen, in denen die Arbeiter auf der Baumwollplantage wohnten, und hatten die Rache vollstreckt.

  Ich lernte, diesen Begriff, der von den erwachsenen Männern hier täglich gebraucht wurde, mit schrecklichen Bildern zu füllen. Ich ahnte nicht, dass ich mein späteres Leben damit zerstören würde.

   Während das Barbecue die Formen eines Familienfestes annahm, überkam mich wiederholt Übelkeit. Ich konnte nichts essen. Die Hände zitterten und brannten. Mein Kopf wurde von Erinnerungen überschwemmt.

   Ich dachte daran, wie ich noch vor Kurzem meine kleine Schwester im Arm hielt, in die Wiege legte, mir Jim mit lachendem Gesicht fröhliche Lieder vorgesungen und auf seinen kleinen Trommeln, den Bongos, etwas vorgespielt hatte. Mein Vater verprügelte mich jedes Mal, wenn er mich mit Jim zusammen erwischte. Nun war mein heimlicher Freund aus dem Sklavenhaus durch meine Hand zu Tode gekommen und ich saß an einem Feuer, in dem die Bongos verbrannten.

   Es wurde keine Trauer um meine kleine Schwester geduldet, sondern nur das Feiern der schrecklichen Rache. Trauer bedeutete Schwäche und ein weißer, freier, protestantischer Amerikaner durfte niemals schwach sein. Meine Mutter war schon längst ins Haus gegangen. Ich hatte sie keine Träne mehr vergießen sehen.

   In den Flammen erkannte ich den kleinen, verkohlten Arm einer Puppe, der sich vor Hitze krümmte. Ich wendete mich ab, übergab mich und wurde unverzüglich von Big Red zum Feuer zurückgedreht.

   »Siehst du, mein Junge: Es ist genauso gekommen, wie ich es dir immer gesagt habe. Sie sind Raubtiere, die nur auf ihre Chance warten, uns zu zerreißen. Wer die Zügel schleifen lässt oder sogar Vertrauen zu ihnen hat, wird hinterrücks zerfleischt. Daran wird sich niemals etwas ändern, auch wenn die Neunmalklugen glauben, durch die Abschaffung der Sklaverei sei alles zum Besseren gewendet worden!«

   Seit diesem Tage war ich nicht mehr der ungeschickte, dumme Junge für ihn, sondern sein größter Held in diesem ganzen verfluchten North Carolina. Die zahlreichen Wunden auf Rücken und Gesäß, die er mir im Laufe der Jahre mit seinem Ledergürtel eingeprügelt hatte, begannen langsam zu verheilen. Mein Vater schleppte mich zu seinen Clantreffen. Dort klopften mir die schwerbewaffneten Männer mit den brutalen Gesichtern anerkennend auf die Schultern, weil ich einen ›Nigger plattgemacht‹ hatte.

   Ich begriff meist nicht, worüber sie redeten. Sie waren laut und tranken viel. Auch das Wort Rache wurde regelmäßig genannt. Aber jetzt sprachen die Männer von einem Mädchen: Rachel. Ich kannte sie. Rachel war fast zehn Jahre älter als ich, hatte zu Zöpfen geflochtenes, dickes schwarzes Haar und einen unübersehbaren Busen.

   Niemand durfte wissen, dass ich heimlich in sie verliebt war, so wie es ein Siebenjähriger nur sein konnte. Ich hütete mein Geheimnis, ging stolz mit der Winchester an ihr vorüber, wenn sie draußen vor dem Haus saß, um eine Geste von ihr zu erhaschen. Doch nun hatte sie einen Freund und beachtete mich nicht mehr.

   Ihr Freund war schwarz. Das schien ihre katholischen Eltern nicht zu stören. Dafür störte es die Red Shirts umso mehr. Sie wollten die selbsternannte Ordnung wiederherstellen.

   Ein paar Tage später trafen Rachels Freund und ich aufeinander. Er grüßte und schaute mich mit diesem überlegenen, mitleidigen Ausdruck an, mit dem Erwachsene so oft auf Kinder herabsehen. Ich blickte schweigend zu Boden und verspürte die sengende Hitze einer niederträchtigen Schadenfreude in mir aufsteigen, weil ich wusste, was ihn bald ereilen würde. 

   Wenig später war er tot. So war es nicht geplant gewesen. Eigentlich wollten sie ihn lediglich demütigen, nackt ausziehen, mit Teer beschmieren und in Federn wälzen. Aber irgendjemand hatte ihn dann angezündet.

   Seine Schreie hallten lange durch die Nacht, als er sich wie eine menschliche Fackel unter entsetzlichen Schmerzen von Baum zu Baum warf. Rachels Eltern fanden ihn im Wald, doch es war längst zu spät.

  Ich spürte das Böse in mir wachsen, denn ich freute mich darüber, dass er fort war. Rachel schien gebrochen, vergoss nur noch Tränen und hatte keinen Blick, keine Geste für mich übrig. Sie tat mir leid und nachts betete ich heimlich für die Seele ihres getöteten Freundes und bat den lieben Gott um Vergebung für meine schändlichen Gedanken.

   Ich verbrachte jetzt viel Zeit zusammen mit meinem Vater. Er ließ mich auf Büchsen schießen, das Lasso werfen und schnelle Messerangriffe üben. Obwohl ich mit ihm nicht darüber reden konnte, was in meinem verwirrten Kopf vor sich ging, genoss ich es, erstmals seiner Aufmerksamkeit würdig geworden zu sein.

   Meine Mutter dagegen entfernte sich zusehends von mir. Sie sprach kein Wort und vermied es, meinem Vater und mir in die Augen zu sehen. Geräuschlos und bleich schlich sie durch die Zimmer wie ein Gespinst, das sich von Tag zu Tag mehr aufzulösen schien.

   Ihr Lächeln war bereits vor Jahren gestorben, denn ich vermochte mich nicht zu erinnern, sie jemals fröhlich oder gar glücklich gesehen zu haben. Nicht einmal mein dralles, plapperndes Geschwisterchen konnte ihr damals ein mütterliches Schmunzeln entlocken. Erst lange Zeit später erfuhr ich, dass die Kleine die schmerzvolle Frucht monatelanger, brutaler Vergewaltigungen durch meinen Vater war ...

~

   »Ich habe auch dieses Mal nicht alle Splitter herausbekommen.«

   Der Doktor steht mit ernstem Gesichtsausdruck an meinem Krankenbett. Ich bin froh aufzuwachen und zunächst den erschreckend lebendigen Erinnerungen meiner Südstaaten-Kindheit entronnen zu sein, auch wenn die Wirklichkeit nicht unbedingt viel besser ist. Ich will etwas erwidern, aber meiner schmerzenden Kehle entfliehen lediglich ein paar armselige Krächzer.

   Die Schwester eilt herbei und stützt meinen Kopf. Vorsichtig flößt sie mir etwas Wasser ein.

   »Mister, Sie haben hohes Fieber. Wir müssen Sie hier behalten und versuchen alles, um Ihre Körpertemperatur zu senken!«

   Die junge Frau sieht mich besorgt an. Ihre Gesichtszüge verschwimmen und werden zu denen meiner Frau. Esther! Verlass mich nicht, nicht schon wieder! Nein, du darfst nicht tot sein, dazu haben wir uns viel zu sehr geliebt!

   Das Fieber zwingt mich, die Augen zu schließen. Jetzt bloß nicht erneut einschlafen: Die Albträume verwandeln sich in Visionen, zu schrecklichen Zerrbildern. Ich werde es nicht überleben, dort in dieser zitternd-heißen Glut einer trügerischen Welt meiner geliebten Frau zu begegnen, nur um sie nochmals zu verlieren! Mein Herz rast, ich schließe die bleischweren Lider und falle in bodenlose Tiefe ...

   Der Herr der Wahnvorstellungen hat vorerst Gnade mit mir. Ich lande erneut auf der Farm in meiner Kindheit, als ob ich unbedingt den Grund meiner verletzten Seele berühren sollte.

~

   Eines Tages setzte sich Big Red mit besorgtem Gesicht neben mich auf die hölzerne Treppe zum Haus.

   »Junge, es ist etwas Grauenhaftes geschehen. Etwas, das gegen alle heiligen Gesetze von Freiheit und Moral verstößt und alle ehrlichen Amerikaner in diesem Staat auf das Widerwärtigste bedroht!«

   Mein Vater legte seinen Arm um mich. Mit der anderen Hand reichte er mir einen blitzenden, silberfarbenen 45er-Peacemaker.

   »Und wir werden dagegen ankämpfen, koste es, was es wolle!«

   Zögernd schloss ich meine kleine Hand um den kalten Perlmuttgriff. Der starke Whiskeygeruch, der meinem Vater aus jeder Pore zu dringen pflegte, hüllte mich in die erstickende Aura seiner unerbittlichen, gnadenlosen Männlichkeit. Gemeinsam luden wir den Revolver mit fünf Schuss. Liebevoll berührten seine schwieligen Finger die Patronen.

   »Die sechste Kammer lässt du leer und stellst den Hahn darauf ein – so! Schließlich sollst du andere damit töten und nicht dich selbst.«

   In Wilmington hatten die Republikaner die Wahl gewonnen und einen Stadtrat aus Weißen und Schwarzen aufgestellt. Das war die Bedrohung, die nun alle Red Shirts im Staate mobilisierte. Mein Vater als lokaler Anführer Big Red durfte bei der Verteidigung der uramerikanischen Werte freilich nicht fehlen.

   Nach meinem Mord an Jim war es für ihn selbstverständlich, dass ich ihm folgen und dort meine Feuerprobe bestehen sollte. Er beauftragte seinen Bruder, mit ein paar Schützenkumpanen in der Zwischenzeit die Farm zu verteidigen.

   Zwei Wochen später kehrten wir von diesem zweifelhaften Feldzug zurück. Ich war monatelang paralysiert und versank am helllichten Tage in finsteren Visionen von Tod und Gewalt, die fieberheiß hinter meiner Stirn kochten und mir schmerzhaft die Augenlider zudrückten.

   Erst viele Jahre später konnte ich verstehen, was sich in diesen Wochen voller Blut und Flammen dort abgespielt hatte: Es war ein Putsch. Tausende Weiße kamen auf Trucks oder zu Pferde, alle bewaffnet, als gelte es, in die Schlacht zu ziehen. Die WLI – Wilmington Light Infantry – veranstaltete schließlich gemeinsam mit den Trupps der Red Shirts einen Krieg.

   Ganze Siedlungen, Geschäfte und Druckereien der Schwarzen wurden zerstört und niedergebrannt. In ein paar Wochen war die schwarze Mehrheit ermordet oder vertrieben worden. Die Bewaffneten wateten durch Senken von Blut, die sich auf den Straßen gebildet hatten. Sie erschossen jeden Schwarzen, der sich noch regte, oder erschlugen ihn mit Knüppeln und Nagelbrettern. Überall war das grauenhafte Geschrei der sterbenden Männer, Frauen und Kinder zu hören.

   Währenddessen hatte ich den Peacemaker nicht ein einziges Mal in die Hand genommen. Hier ging es nicht um die Verteidigung des eigenen Lebens, sondern um Mord. Meine Kraft, Jim zu erschießen, erwuchs nur aus der Angst, dass er mich genauso töten würde wie meine hilflose Schwester, wenn ich nicht handelte.

   Im Chaos der Gewalt verkroch ich mich weinend in einem großen Wandschrank im schäbigen Hotel, wo mein Vater mit einigen Männern aus unserem Dorf logierte. Sie sahen ein, dass es zu viel für ein Kind war, ließen mich in Ruhe und die Feuertaufe fiel ins Wasser.

   Nach ein paar Tagen war die Stadt weiß, auferstanden aus dem vergossenen Blut der Opfer und den roten Hemden der Sieger. Die   Demokraten übernahmen das Ruder und dachten sich Zusatzfloskeln aus, die das generell geltende Stimmrecht der männlichen, schwarzen Bevölkerung auf null reduzierte. Amerikas Freiheit und Reinheit schienen gerettet ...

   Meine kindliche Seele dagegen war zersprungen. Ein paar Wochen nach unserer Rückkehr aus diesem unwirklichen Inferno fand ich meine Mutter tot in der Badewanne. Ihre dünnen, blassen Arme hingen mit aufgeschlitzten Adern über den Wannenrand. Das Blut sickerte tief in die Dielenritzen, wo es unauslöschliche, dunkle Schatten hinterließ. Die Spuren ihrer Verzweiflungstat waren noch Jahre später auffälliger, als sie es selbst zu Lebzeiten jemals vermocht hatte.

   Mein Vater barg den Leichnam, warf sich den toten Körper wie einen Sack Baumwolle über die Schulter und knurrte:

   »Deine Mutter war schwach. Sie konnte nicht verkraften, dass ihr tapferer Sohn schon so früh zum Manne herangereift war. Nun ist sie vereint mit all den anderen, die nicht dazu in der Lage waren, das Leben in seiner urgewaltigen Kraft und Konsequenz zu ertragen.«

   Es gab kein heroisches, kein patriotisches Begräbnis.

   Kurze Zeit später begann der Umbau des Farmhauses. Die hölzernen, gerissenen Stämme mit der abblätternden weißen Farbe wurden durch gleißend helle Marmorsäulen ersetzt, die sich vom Fuße der neu errichteten Freitreppe bis über das erste Geschoss und den Balkon der dreieckigen Mittelfassade der Frontseite erstreckten. Vor dem Haus wurde ein großzügiges Rondell aus strahlend weißem Kies angelegt mit einem hohen Fahnenmast auf jeder Seite. Links wehte der blaue Union mit den rot-weißen Balken und rechts die Confederate flag.

   Big Red war in der Hierarchie aufgestiegen. Anstatt mit dem Gewehr im Anschlag vom Geländewagen aus Jagd auf Schwarze zu machen und mehrmals in der Woche in einer aufwendigen Prozedur das viele Blut unter seinen Fingernägeln abzuwaschen, saß er nun wie ein kleiner Gouverneur an seinem neuen Schreibtisch. Er trank feinsten Brandy, rauchte teure Zigarren und lief mit rotem Hemd und weißem Anzug umher. Das Land hatte er verpachtet und war nur noch damit beschäftigt, Geld zu kassieren, merkwürdige Leute zu empfangen oder lange Besprechungen abzuhalten.

   Inzwischen tobte in meinem Inneren ein Krieg. Es ging um nichts Geringeres als mein Leben, da mich die seelischen Wunden in die Dunkelheit zu reißen drohten. Ich stürzte mich mit Feuereifer auf alles Neue in der Schule und entwickelte eine krankhafte Wissbegierde. Wer mich einen Streber nannte, bekam binnen Sekunden meine Faust ins Gesicht. Ich wurde gefürchtet und geachtet.

   Jeder schien zu wissen, dass ich bereits als Siebenjähriger in Notwehr einen Mann erschossen hatte. Selbst sprach ich niemals darüber. Ich verschwieg zudem die zahllosen anderen Gewalttaten, die ich mitangesehen hatte und deren Schatten immer wieder ihre eisigen Finger nach mir ausstreckten. Es war stets ein einsamer Kampf, denn ich blieb verdammt, allein zu sein.

   Mit sechzehn Jahren hatte ich noch immer keine Freundin. Während andere Jungen nach der Schule den Mädchen hinterherrannten, ging ich auf die Farm eines alten Bürgerkriegsveteranen, der Schießübungen an sämtlichen verfügbaren Waffen und Nahkampf trainierte.

   Ich hatte dabei das gute Gefühl, nicht nur mich selbst, sondern auch meine Ängste, Aggressionen und Schuldgefühle plötzlich kontrollieren zu können. Ich verpackte alles in einer Patrone, einem Schlag und wenn ich abdrückte oder meinen Gegner niederstreckte, war es ein Sieg über mich selbst.

   Doch einer Lehrerin gelang es, sich in mein Vertrauen zu schleichen. Sie entdeckte ein kleines Gedicht, das ich hinten in mein Heft gekritzelt hatte. Es handelte von Schuld, Sühne und Gott. Ich musste nach der Schule zu ihr nach Hause kommen. Als sie mir die Tür öffnete, war sie nackt. Sofort zog sie mich ins Bett und zeigte mir, wie ein Mann sie glücklich machen konnte.

   Nach diesem Ereignis beschrieb ich jede Nacht im Kerzenschein viele Blätter Papier, um den in mir wogenden Kampf zu bewältigen. Es standen sich einerseits die bewaffnete Kaltblütigkeit, mit deren Hilfe ich die traumatischen Ereignisse überlebt hatte, andererseits die Sehnsucht nach Vertrauen und Liebe gegenüber.

   Die Lehrerin las meine Texte, redete über mein tiefes Gefühl und einen Hang zur Romantik. Sie bestellte mich noch ein paar Mal, um mir Dinge beizubringen, die sie die höchsten Lustschreie ausstoßen ließ. Dann lernte sie einen älteren, wohlhabenden Mann kennen und schob mich ab. Ich verbrannte alle Texte und schwor, nie wieder solchen Unsinn zu dichten.

   Mein Vater förderte meinen Bildungshunger. Keine Schule war ihm zu teuer. Als ich so weit herangewachsen war, dass ich mir Gedanken über ein Studium machen konnte, nahm er mich beiseite.

   »Junge, dein Vater ist stets ein einfacher Farmer gewesen. Mit Schläue, Prinzipien und politischen Ambitionen freilich, aber ich werde aus diesem Provinznest niemals herauskommen und nur innerhalb der Organisation etwas zu sagen haben.«

   Er roch mittlerweile nicht mehr nach billigem Whiskey, sondern nach würzigen Zigarren und edlem Bourbon.

   »Studiere eine der ältesten Wissenschaften der Welt und du machst dich frei, frei von all den Lügnern, Betrügern und Klugscheißern! Was mir täglich fehlt, wirst du haben und es weiter bringen, als es dein alter Vater jemals vermocht hat!«

   So kam es, dass ich nach Virginia ging, auf die University School of Law, gegründet von einem der Väter unserer Unabhängigkeitserklärung. Dort lehrte ein Professor, der seine an sich trockenen juristischen Exempel überaus lebendig und beinahe literarisch präsentierte. Es muss wahrlich ein Fluidum existieren, das es Gleichgesinnten ermöglicht, sich rasch und ohne Umwege zu erkennen. Er blickte nur in mein vor erstaunter Begeisterung glänzendes Gesicht und noch am selben Abend brachte er mich zu den Flaming Hearts, einer Studentenvereinigung junger Poeten.

   Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht mehr einsam. Ich fand Freunde, wie es sie in North Carolina nie für mich gegeben hatte. Die neue Macht war stärker als Gewalt und Patronen und konnte meine dunkle Seite verdrängen. So war es nicht verwunderlich, dass ich nach dem Abschluss meines Studiums kein Anwalt wurde, sondern als Rechtsexperte beim New York Herald anfing.

   Big Red hätte es lieber gesehen, wenn ich nach North Carolina zurückgekehrt wäre, um meine eigene Kanzlei zu eröffnen, aber eine gut bezahlte Anstellung bei der renommiertesten Zeitung New Yorks fand nach einigem Zaudern doch seinen Beifall.

   Dagegen wäre er vermutlich kollabiert, wenn er etwas von meinen Plänen gewusst hätte, die ich im Laufe der Zeit geschickt umzusetzen wusste. Um meiner Neigung zum Schreiben nachgehen zu können, näherte ich mich aus meiner Rechtsexpertenposition immer mehr den journalistischen Gefilden. Ich pflegte noch Kontakte zu einigen alten Freunden von den Flaming Hearts und schrieb kleine Gedichte auf Notizblätter, die ich spätestens am nächsten Tag zerknüllt in den Müll warf.

   Ich erledigte nebenbei kleinere Rechtsangelegenheiten für meinen Vater, bis er eines Tages mit einer größeren Sache auf mich zukam. Ein entfernter Verwandter, ein ehemaliges Red-Shirts-Mitglied, hatte eine Schwarze vergewaltigt und ihren Mann erschossen, als dieser überraschend hinzukam. Er brauchte dringend einen guten Anwalt.

  Ich redete mich damit heraus, dass ich nicht als Anwalt tätig sei. Big Red blieb hartnäckig und nötigte mich, auf die Farm zu kommen.

   »Verdammt, Junge, das kannst du mir nicht antun! Es geht dabei um mich. Verstehst du das? Dem Alten würden ein paar Jahre Knast nicht schlecht bekommen, aber wie stünde ich denn da? Die Red Shirts waren einmal, jetzt sind wir alle im auferstandenen Ku Klux Klan, Harold, im KKK! Ich bin hier der Kleagle – der Chef im Distrikt – und trage Verantwortung!«

   Er stand atemlos vor mir und sah mich erwartungsvoll an.

»Vater, ich bin deiner Meinung. Es ist allein deine Aufgabe und der wirst du dich stellen müssen und nicht dein Sohn!«

   Bevor ich mit ansehen musste, wie sein zerfurchtes Gesicht entgleiste und ihm der Zorn aus den Augen sprühte, verließ ich sein Arbeitszimmer. Vom Altan brüllte er mir wutentbrannt hinterher:

   »Junge, du lässt mich im Stich, obwohl ich allzeit an dich geglaubt habe? Lauf nur davon, aber den Klansmen entkommst du ebenso wenig, wie deinem Schicksal, denn du bist ein Killer! Schon bald wirst du losziehen und das tun, wozu ich dich erzogen habe!«

   Meine Schritte wurden schneller, mein Herz raste. Die dunkle Seite in mir bäumte sich auf und längst verdrängt geglaubte Bilder überfluteten den schutzlosen Schöngeist, der in den letzten Jahren so selbstbewusst in mir herangewachsen war.


 

Tajana: Ein Vorspiel in Paris

 

   Meine Wange brennt wie Feuer, der Kieferknochen summt. Ein hohes Pfeifen vibriert im Ohr. Ich kann nicht weinen, bin in Wut und Traurigkeit erstarrt. Mein Gemahl Aleksej bewegt den Mund zu stummen Worten, betrachtet mit schuldhaft zuckendem Auge seine Hand wie einen Fremdkörper.

   Er greift in eine kleine Schublade und reicht mir eines seiner Seidentaschentücher.

   Schweigend nehme ich es entgegen. Meine Augen brennen vom hereinbrechenden Wasser, aber ich will nicht weinen. Erst jetzt schmecke ich das Blut in meinem Mund. Seine Hand ist groß und traf nicht nur meine Wange. Eine ›dekadente Hure‹ hat Aleksej mich genannt. Ich betupfe vorsichtig meine aufgeplatzte Lippe und ersticke sein Monogramm im süßen Blut.

   Mit starrem Blick sinkt der kräftige Mann, der noch vor ein paar Jahren so sehr in mich verliebt gewesen war, in einem aufseufzenden Armlehnstuhl zusammen. Nein, es gibt keine Entschuldigung, kein Wort des Bedauerns. Sein adeliger Stolz verbietet es ihm, sich wie ein ehrlicher Mensch zu benehmen. Nicht einmal vor mir hat Aleksej jemals die aristokratische Totenmaske abgenommen.

   Dabei war es gerade das, was mich damals in Petrograd an ihm fasziniert hatte. Diese weltumspannende Arroganz der Selbstverständlichkeit, der Überlegenheit, die er mit jeder Geste, jedem Wort und jeder Miene in seinem stolzen Gesicht zum Ausdruck brachte. Und ich war seine Auserwählte, ein junges, bürgerliches Mädchen, das außer ihrer Schönheit, ihrem wachen Geist und ihrem reinen, liebenden Herzen nichts in diese ungleiche Ehe einzubringen vermochte.

   Doch mein Märchenprinz wurde aus seinem Schloss gejagt und ich mit ihm – seine junge Frau. Die Bolschewiki knüpften an jedem Baum einen Adeligen oder Diener auf und erschufen wahre Alleen des Grauens. Sie banden die Grafen und ihre Sippe vor die Kanonen und versprengten ihre Eingeweide auf den gepflasterten Ehrenhöfen.

   Wir rafften Schmuck und Wertgegenstände in zwei Koffern zusammen und flohen Hals über Kopf durch den Botentrakt hinaus in den Garten. Der Hass unserer Verfolger war so groß, dass sie sogar unsere Dienerschaft ermordeten.

   Die gute Anna – Köchin und Amme – stolperte bei einem Fehltritt, schlug mit der Stirne auf den Weg, bekam vor unseren Augen die Zinken einer Forke durch den Hals gestochen und wurde vom schmutzstarrenden, kreischenden Mob vergewaltigt.

   All das ereignete sich innerhalb weniger Augenblicke. Ich weiß nicht, wie wir der überschäumenden Wut entkamen, die Häuser und Straßen der Stadt binnen Kurzem mit tobendem Pöbel flutete, der alles zerschlug und hinmordete.

   Der Flüchtlingsstrom war lang. Die Winternächte forderten immer neue Opfer, die am Morgen die steifgefrorenen, reifbedeckten Glieder wie ein Knäuel um sich schlangen oder nur noch eine Blutspur und abgerissene Gliedmaßen hinterließen, wenn sie am Rande der Gruppe von Wölfen verschleppt worden waren.

   Mehr als einmal beschützte mich Aleksej mit seinem Leben. Kein Mensch, kein Tier und keine Naturgewalt durften seinem zarten Engel etwas zuleide tun. Wir überlebten Flucht und Verfolgung, gelangten nach Paris und nun ist es soweit, dass mein Märchenprinz seinen Engel schlägt, dass ihm das Blut aus dem Mund rinnt.

   Aleksej hat sowohl sein Land, Haus und Geld, als auch seine Diener und die Macht verloren. Warum will er mich nun auch noch von sich stoßen? Mein Leben war ebenso zerstört, aber ich habe etwas unternommen, während er resignierte. Immer fand ich einen Weg, unsere kleine Wohnung, Essen und Heizmaterial zu bezahlen. Selbst dann, wenn ich dafür ein Stück meiner Ehre opfern musste.

   Ich war schon als junges Mädchen tapfer und hatte es gelernt, sowohl Armut als auch Leid ins schreckliche Antlitz zu blicken, während ich unter harten Bedingungen eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvierte.

   Der Krieg ist seit Jahren vorbei, Paris erstrahlt wieder im verlockenden Glanz. Die Stadt der Liebe ist neugeboren worden. Nur Aleksej stirbt seinen freiwilligen Tod in Melancholie, Verweigerung und Selbstmitleid. Würde ich ihn nicht mehr lieben, wäre es weniger schmerzvoll, ihn sterben zu sehen.

   Ich war dagegen meinem unbestechlichen Instinkt gefolgt: meiner inneren Berufung zur Künstlerin. Ich glaubte stets fest daran, dass ich eines Tages eine gefragte Malerin sein würde, nur hätte ich niemals gedacht, dass es so schnell Wirklichkeit werden sollte.

   Mein Aufstieg war sein Niedergang. Er lebt in einer Welt, die er nicht mehr verstehen kann. Nun bin ich es, die für uns sorgt, die Geld verdient und mit der Haute-Volée umgeht.

   Morgen habe ich meine zweite Vernissage und alles, was in Paris Rang und Namen hat, wird dort sein. Nur einer betrügt mich wiederholt um seine Anwesenheit: Aleksej.

   Das Blut an meiner Lippe ist inzwischen getrocknet. Wir haben kein einziges Wort gesprochen. Ich lege das befleckte Tuch auf das Tischchen und gehe hinaus. Wie so oft in den letzten Jahren ist es auch eine Flucht, ein Davonlaufen vor der endgültigen Konsequenz unserer Ehe, die ich nicht anerkennen will: der unausweichlichen Trennung.

~

    »Meine Meisterin, lass dich umarmen!«

   Antoine, der mich anbetet und alles arrangiert hat, dass ich in seiner Galerie ausstelle, umfängt mich in eleganter Pose. Mit scheinheiliger Keuschheit haucht er mir seine Küsse auf die Wangen, während in mir die Erinnerungen an unsere erste, einzige und wahrhaft unkeusche Nacht erwachen. In alles verhüllender Finsternis tat er Dinge mit mir, deren Beschreibung keinem von uns jemals vor Scham über die Lippen treten würde.

   So erbarmungslos und unersättlich der Galerist in der Liebe zu sein pflegt, vollbringt er auch seine Arbeit: Antoine will stets den vollständigen, zwangsläufigen Erfolg inszenieren, der mit Effekt und Wucht erschlägt.

   Er hatte von Anfang an schon eine genaue Vorstellung davon, was für ein Bild wo hängen sollte, in welchem Format und von welchem Genre. Mein Problem war nur, dass ich keine ausreichende Auswahl von Bildern anbieten konnte, denn die meisten meiner Kunstwerke waren bereits auf meiner ersten Vernissage verkauft worden.

   Noch bevor ich beginnen konnte, über dieses Problem nachzudenken, wurde es auch schon gelöst. Ich bekam dank meiner plötzlichen Bekanntheit und der regelmäßigen Besuche in den adeligen Salons ein Dutzend Aufträge, die mich in Atem hielten.

   Ich habe in den letzten Monaten hart gearbeitet. Es galt in den gehobenen Kreisen als en vogue, sich von mir porträtieren zu lassen. Ohne dass ich es verlangt hätte, wurden mir für die Gemälde hohe Beträge gezahlt. Ja, es schien ein inoffizieller Wettstreit entbrannt zu sein, wer sich das teuerste Bild zulegen könnte.

   Ich kaufte einen großen Luxuswagen, einen silberglänzenden Rolls Royce, und entdeckte meine enorme Schwäche für Diamanten, bevorzugt auf Armbändern oder Halsketten.

   Meine schönsten Bilder waren jedoch keine Auftragsarbeiten. Wenn ich mit funkelnder Zigarettenspitze durch die Pariser Nacht blitzte, traf ich nicht selten die interessantesten Modelle. Ich schleppte sie ab, wir schliefen miteinander und ich porträtierte sie. Mein Leben ist ein steter Rausch aus avantgardistischer Malerei und hemmungsloser Lust. Ich bin besessen von Kunst und Sinnlichkeit.

   Am Abend vor der Eröffnung der Vernissage ist mein Kopf voller Ideen. Die Bilder hängen am passenden Ort, der perfektionistische Antoine hat das gesamte Arrangement in Grau getaucht, überprüft und für richtig befunden, und doch will ich am liebsten alles über den Haufen stürzen.

   »Mon trésor, es ist tadellos! Die grauen Wandbespannungen bringen deine Bilder am besten zur Geltung, glaube mir. Es ist alles genauso perfekt wie du, Chéri!«

   Ich lasse seine intimen Berührungen an Taille, Schultern und Armen über mich ergehen wie auch die lüsternen Blicke. Er wird es lernen müssen, dass unsere gemeinsame Nacht das einmalige Exempel übersteigerter Affektion im Glückstaumel meiner ersten Ausstellung bleiben wird. Antoine ist ein Freund, ein Kunstkollege, für den ich weder Begehren noch Liebe empfinden kann.

   »Hinaus mit dir, Tajana! Es bleibt alles, wie es ist! Morgen wirst du deinen zweiten großen Triumph feiern – vertrau mir, mon chou

   Ich vertraue ihm. Er ist einer der erfolgreichsten Galeristen der Stadt – und seit Langem in mich verliebt. Antoine schiebt mich hinaus und verschließt hinter uns die Tür. Wir verabschieden uns und tauschen brave, angedeutete Küsse aus. Mit klopfendem Herzen gehe ich durch die kleinen Straßen. Der warme Spätsommerwind fährt in mein Kleid und umschmeichelt meine nach Zärtlichkeit dürstende Haut.

   Ich suche keine geistreiche Unterhaltung, keinen Salon, sondern setze mich draußen auf einen geschwungenen Metallstuhl eines Cafés. Entspannt lehne ich mich zurück, entzünde eine Zigarette und stoße den weißen Rauchstreifen in die dunkelblau hereinbrechende Nacht.

   Junge Männer und einige Frauen der Bohème führen eine aufgeregte Diskussion. Der Schein einer Lampe bildet um sie eine Glocke, während ich im Abseits immer mehr in anonyme Dunkelheit tauche. Ich höre ihnen zu, rauche noch eine zweite und dritte Zigarette und frage mich, ob diese Kinder genauso über den Traum einer vom Bolschewismus gepredigten Freiheit reden würden, wenn sie damals nur einen einzigen Tag in Petrograd erlebt hätten.

   Es wird kühler, meine Haut überzieht sich mit einem Frösteln. Ich schnupfe etwas Koks und gehe in die Nacht. Schon bald habe ich die Straßen unten am Fluss erreicht, in denen sich Damen von Welt, zu denen ich mich nun auch zählen darf, für gewöhnlich nicht aufhalten. Aber ich bin wie so oft auf der Suche nach der Erfüllung einer schmutzigen Lust, die mir die feine Gesellschaft nicht bieten kann. Zwielichtiges Volk schleicht durch die Schatten, helle Augenpaare starren aus dem Schwarz von Winkeln und Nischen.

   Mein Herz rast, doch ich empfinde keine Angst. Die Gestalten der Nacht spüren, dass ich in eigener Finsternis gekommen bin, mit meinem dunklen, sündigen Verlangen. Langsam drücke ich die speckige Klinke einer unscheinbaren, von tierischen und menschlichen Exkrementen besudelten Tür herunter.

   In der Spelunke ist es noch dunkler als auf der Straße. Meine Augen brauchen eine Weile, um die Umhersitzenden schemenhaft zu erkennen. Ein Streichholz flammt auf und beleuchtet für einen Augenblick das bartstoppelige Gesicht eines Seemanns, eine große, behaarte Hand und scharf geschnittene Nasenfalten.

   Ein Mädchen kommt heran und hält mir ein Glas vor die Brust.

   »Der Drink geht aufs Haus, alles andere bezahlst du sofort!«

   Ihr Kleid ist altmodisch und verschlissen, ihre Augen blicken hell und wässrig aus dem schmutzigen Gesicht. Das Mädchen ist hübsch, aber es ist ihr Schicksal, eine arme Hure zu sein. Ich kippe den Rum in meinen Mund, schlucke alles mit einem Mal hinunter und genieße das Brennen in meiner Kehle, das sich rasch bis in den Magen ausbreitet. Ich reiche ihr ein paar Geldscheine. Das Mädchen nickt und der Seemann erhebt sich.

...

   »Aleksej! Ich fahre nach New York. Wenn ich zurückkomme, werde ich die Scheidung einreichen, falls du dich bis dahin nicht selbst im Alkohol ertränkt haben solltest!«

   Ich stehe stolz vor ihm und sehe im Spiegel die Diamanten in meinem Dekolleté blitzen wie meinen eigenen, kleinen Sternenhimmel.

   »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Tajana!«

   Er springt ungewohnt lebhaft auf und hat plötzlich die Kraft, mir nach Jahren in die Augen zu sehen – unbeugsam, kämpferisch, so, wie ich ihn einst begehrte.

   »Dann ist der Weg frei für mich und die neue Frau an meiner Seite!«

  Es flimmert vor meinen Augen. Stolz und Selbstsicherheit in mir brechen zusammen wie ein Kartenhaus im Wind. Wie hat er das geschafft? Er war hoffnungslos, zerstört; ein Anblick des Jammers, des Elends. Meine Knie werden weich, ich taumle mit dem Rücken gegen die Wand.

    »Wer, wer ist sie?«, presse ich, vom plötzlichen Jammer beinahe erstickt, hervor.

   »Baroness Laván – endlich eine Frau von Stand! Ich hätte niemals eine Bürgerliche heiraten dürfen! Außerdem ist sie ist jung, schön, geistreich und –«

    Ich starre ihn mit tränenerfüllten Augen an.

   »... keine Bestie wie du!«, schleudert mir Aleksej entgegen.

   Jetzt weine ich ungehemmt. Meine Tränen peitschen gegen die Wandbespannung, mein diamantener Sternenhimmel ist erloschen. Das ist nun die Strafe für meine Überheblichkeit, für die Verachtung, mit der ich meinem Mann in den letzten Jahren begegnet war. Ich lebte in meiner eigenen Welt und hatte nichts von seiner Wandlung bemerkt.

Ich stürze aus der Wohnung, fliehe in die Dunkelheit der Seitenstraßen und breche im Schummerlicht einer Laterne zusammen. Eine milde Frühlingsböe vertreibt den Schleier meiner Egomanie. Jetzt erkenne ich in grausamster Deutlichkeit, dass ich niemals aufgehört habe, meinen Mann zu lieben. Doch es ist zu spät. 


 

Harold Jordan: Der Krieg beginnt

 

»Du siehst furchtbar aus!«, meint ›Teddy‹ Forth und kippt seinen Drink hinunter.

   »Was man von dir nicht behaupten kann!«, entgegne ich.

   Es gibt Probleme, denn mein alter Journalistenfreund arbeitet nicht mehr beim Herald. Er ist zum Evening Star gewechselt. Das schöne, palazzoähnliche Verlagsgebäude soll abgerissen und durch ein zwanziggeschossiges Hochhaus ersetzt werden. Weder die Minerva-Statue, noch die Bronze-Eulen auf dem Dach könnten daran irgendetwas ändern. Teddy hatte auch noch andere Probleme im Verlag, aber der geplante Abriss gab den Anlass zu seiner Kündigung.

   »Besorge mir einen neuen Pressepass und bring mich wieder als freier Mitarbeiter ins Geschäft, Teddy! Die Story über Cynthia Turner muss unbedingt erscheinen, ich habe es ihr versprochen!«

   Er zwinkert mir zu.

   »Du wirst doch nicht etwa auf einmal Gefühle entwickeln? Bist du nicht kalt wie ein Stein geworden?«

  Ich gehe auf seine Bemerkung nicht ein, sondern schiebe ihm mein Manuskript zu. Er beginnt zu lesen und verfällt in ein beständiges Nicken.

   »Alle Achtung, Harold, so einen Text hätte ich dir bei deiner Stimmung überhaupt nicht zugetraut. Diese Frau muss dich vollkommen verzaubert haben. Sie ist wirklich außergewöhnlich schön. Die Fotoplatten vom Herald habe ich nachgeschickt bekommen.«

   Er packt die Papiere in seine Tasche und steht auf.

   »Teddy, du bist jetzt Chef der Society-Sparte, es ist ein Leichtes für dich, mich ins Boot zu nehmen. Komm in den nächsten Tagen vorbei, damit ich den Vertrag unterschreiben kann. Am besten bringst du den Pressepass auch gleich mit!«

   Er lacht und reicht mir die Hand.

   »Ich tue alles, was du willst. Dein Artikel ist gut und diese Frau scheint wirklich etwas ganz Besonderes zu sein. Ich muss unbedingt demnächst eine ihrer Vorstellungen besuchen!«

   Als er gegangen ist, leere ich in einem Anflug bitterer Wehmut die Brandyflasche. Die reißen das Heraldbuilding ab! Wie verrückt muss man sein, um so etwas zu tun? Erneut wird ein Ort der Erinnerung verschwinden: keine Verlagsflure mehr, auf denen Esther und ich uns begegneten, keine Minerva, vor deren gigantischem Ziffernblatt ich Rosenblüten auf den Herald Square regnen ließ und ihr meinen Heiratsantrag hinunterrief.

   Menschen verschwinden, Orte verschwinden – was bleibt, ist Leere und eine kaum mehr bezähmbare Flut von Erinnerungen, die mich von innen auffrisst.

»Hilfe, einen Arzt, holt einen Arzt her!«

Ein Taxifahrer stolpert zur Tür herein und verliert seine Mütze. Der Wirt greift ohne weitere Fragen zum Telefon und alarmiert einen Doktor. Dann geht er mit dem Mann nach draußen. Ich wanke hinterher, bleibe an der Türklinke hängen und muss erst von einem Passanten befreit werden. Verfluchte Sauferei!

   Im Taxi windet sich ein großer Schwarzer mit seinem Sohn auf der Rückbank. Beide jammern vor Schmerzen und halten sich die Hände vors Gesicht.

   »Was ist hier passiert?«, frage ich den Taxifahrer in, ungeachtet meines Brandypegels, offenbar recht verständlicher Aussprache.

   Der weicht vor meinem Alkoholgestank zurück.

   »Ich konnte es nicht genau sehen. Als ich hier angehalten habe, riss einer die hintere Tür auf und kippte irgendetwas ins Auto.«

   In meinem vernebelten Hirn kristallisiert sich eine schreckliche Vermutung heraus.

   »Holt einen Eimer Wasser – schnell!«

   Die Leute glotzen mich an. Ich greife mir einen der Männer und stoße ihn ins Lokal.

»Los, beeil dich!«

   Als dieser mit dem Eimer zurückgekommen ist, kippe ich das Wasser unter den erstaunten Blicken der Umherstehenden den beiden Schwarzen in die Gesichter.

  »Davon werden die auch nicht weiß!«, grinst mich einer der Passanten an.

   Wütend packe ich ihn am Kragen.

  »Mit solchen Sprüchen fängt es an! Dann kommt einer vom Klan, der euch erzählt, dass die Farbigen uns bedrohen und als nächstes schüttet jemand harmlosen Leuten Säure ins Gesicht!«

  Der Typ hampelt herum und will sich befreien.

   »Mister, sind Sie sich da sicher, was Sie behaupten? Alleine durch das Einatmen Ihres Mundgeruchs spare ich mir mindestens drei Drinks!«

   Ich stoße den Kerl ins Auto.

   »Dann sieh dir doch ihre Gesichter an!«

   Mit einem Aufschrei des Entsetzens hastet er heraus und rennt davon. Endlich ist der Arzt eingetroffen. Er schaut sich die Opfer kurz an und murmelt:

   »So eine verfluchte Schweinerei! Jetzt geht das hier auch schon los. So was gibt’s doch sonst nur in den Südstaaten!«

~

   Nun ist sie also eingetroffen: die Nordinvasion. Anstatt weiter die Akten vom Klan zu studieren, hab ich mir das Hirn von der schönen Cynthia aufweichen lassen und mich sinnlos betrunken. Bevor die Organisation damit anfängt, ihre potentiellen neuen Mitglieder zu werben, wird sie vor allem Eines wollen: Rache.

   Niemand kann das so gut verstehen wie ich. Ich will Garçonne und ihre Flappers da raushalten. Also packe ich eine Tommygun, eine Springfield, meinen Peacemaker, einen Colt und ein paar Granaten mit Munition und Magazinen zusammen in eine große Tasche. Dieses Mal habe ich keine Transporthilfe und wuchte mir die Last auf den Rücken.

   Ich werde einen kleinen Ausflug machen. Wortlos verlasse ich das Lokal, während ich mit der geschulterten Tasche den halben Tresen abräume. Gläser stürzen auf den Boden und zersplittern, Leute murren. Egal, wer weiß, ob ich jemals zurückkehre.

   Die frische Winterluft hat den enormen Vorteil, dass ich schneller wieder zu mir komme, als wenn es Sommer wäre. Ich ächze unter dem Gewicht meiner Tasche und schaffe es gerade noch bis in eine Seitenstraße hinein. Dann schmeiße ich das Gepäck auf den Boden und ziehe es an den Gurten hinter mir her. Dank des Schnees geht das besser, als es zu tragen.

   Stundenlang quäle ich mich ab, bis endlich die Grenze zu Hell’s Kitchen erreicht ist. Hinter der schwarzen Fassade mit den ausgebrannten Fensterhöhlen war einmal Garçonnes Absteige. Ich gehe noch weiter bis ans Ende der Straße und trete dann die Tür eines leerstehenden Hauses ein. Es ist ziemlich hoch und vorsichtig erklimme ich im Flackerschein meines Feuerzeugs die brüchige Treppe. Mein Bein schmerzt. In einigen Etagen stinkt es bestialisch, als ob dort Generationen von drifters ihre Därme und Blasen entleert hätten.

   Ganz oben herrscht dagegen frische Luft, weil sich die Fensteröffnungen auf beiden Seiten mit gähnender Leere präsentieren. Ich packe meine Waffen aus und lege mich auf die Lauer. Wo sollen diese verfluchten Ordensleute anfangen, wenn nicht hier, wo dreizehn ihrer sogenannten Brüder dahingemetzelt wurden. Sogar einem Kapuzenmann dürfte es klar sein, dass die vermeintlich irischen Killer direkte Nachbarn des unauffindbaren Novizen waren, der spurlos verschwunden ist.

   Die Kälte kriecht in meine Glieder. Mir kommen plötzlich die Erinnerungen, wie mein Vater einst mit mir auf die Jagd gegangen war. Wir saßen stundenlang auf dem Hochstand, schwiegen uns an und starrten auf den Lauf unseres Gewehrs, vor dessen Mündung sich eine herrliche Lichtung im trügerischen Morgengrauen aus dem Nebel schälte.

   Nein, ich will nicht an meine Kindheit denken müssen. Damals hat das gesamte Elend mit den Rassisten angefangen und jetzt kommen sie hier her nach New York. Sie haben mir schon meine Frau genommen und nun wollen sie das ohnehin komplizierte Leben in dieser Stadt mit ihrem Hass zerstören. Nach dem heutigen Säureanschlag wird es mir gleichgültig sein, ob Kluxer vor die Flinte geraten, die vielleicht nicht in irgendeiner Form am Tode von Esther mitschuldig sind. Sie säen Gewalt und werden Gewalt ernten. Spätestens, wenn sie einem der großen Gangster hier auf die Zehen getreten sind, dürfte ihre Zeit beendet sein.

   Doch auf so einen Zufall kann und will ich nicht warten. Die Sterne funkeln kalt auf mich herab und ich denke, wenn es wirklich die Seelen der Toten sein sollen, dann sind es viel zu wenige. Ich beobachte die Straße. Alles bleibt ruhig. Stattdessen erscheint Cynthia in meinen Gedanken. Sie wird hoffentlich niemals herausfinden, welche Rolle Garçonne tatsächlich in jener Nacht spielte.

   Wo steckt die Gangleaderin eigentlich? Ich habe noch nie zuvor erlebt, dass sie so lange beleidigt gewesen wäre. Sicher wird sie versuchen, erneut mit Cynthia Kontakt aufzunehmen, um sie in ihr Lotterbett zu bekommen. Das kann einfach nicht gut gehen.

   Ich schrecke hoch von einem lauten Knistern und Prasseln. Verdammt, ich bin während meiner ganzen verflixten Grübelei eingeschlafen. Eine sonderbare Helligkeit durchbricht die Nacht. Auf der Straße brennt ein merkwürdiges Feuer. Nein, ich traue meinen Augen nicht: Es ist ein brennendes Kreuz.

   Unten rennen einige Typen herum. Ihre weißen Kapuzen reflektieren den Feuerschein und geben ein hervorragendes Ziel für meine Springfield ab. Den ersten Klansman erschieße ich, als er neben dem Kreuz steht, die nächsten muss ich im Laufen erwischen. Sie rennen zu einem Truck, springen auf die Ladefläche und preschen davon. Mein Dauerfeuer aus der Thompson zerlöchert ihre Kutten und die Scheibe des Heckfensters, aber aufhalten kann ich sie nicht.

   Mühsam hieve ich mich die Treppen hinunter. Die Iren waren schneller. Sie stehen verwundert um das brennende Holzkreuz herum. Einer will dem verwundeten, zuckenden Klansman mit einem Pflasterstein den Schädel zerschmettern.

   »Halt! Den hab ich angeschossen!«

   Ungläubig blickend weicht der Kerl zurück.

   »Was willst du denn schon wieder? Ich dachte, wir wären endlich quitt?«, schnarrt mich Kieron aus dem Dunkel an.

    Ich beuge mich herunter zu dem stöhnenden Ordensbruder und frage, wann sie ihr Killerkommando schicken wollen.

   »Morgen Nacht. Sie töten euch alle, Frauen und Kinder! Katholiken müssen ausgerottet werden und dürfen sich nicht vermehren!«

     Der Kluxer lacht irre und füllt seine Kapuze mit Blut. Ich habe ihm einen Streifschuss am Hals verpasst. Dann stelle ich meine wichtigste Frage:

   »Schicken sie ›Ripper‹ und ›Angel‹?«

      Er glotzt mich an.

      »Du Mistkerl, du kannst sie nicht kennen. Jeder, der sie kennengelernt hat, ist tot!«

      Ich trete gegen seinen Hals, dass noch mehr Blut aus der Wunde strömt.

      »Kommen diese beiden Dreckskerle morgen hier her, will ich von dir wissen?«

      »Ja.«

      Ich drehe mich um.

      »Jetzt kannst du tun, was du nicht lassen kannst!«, wende ich mich an den Pflastersteinkiller.

      Der Klansman kommt nicht zum Schreien. Sein Schädel berstet mit einem grauenhaften Geräusch auseinander.

      »Sieh es dir an, Writer! Der Typ hat ja doch mehr Hirn, als ich geglaubt hatte!«, lacht Kieron.

      »Lass mich mit deinem Scheiß in Ruhe! Ich töte nicht zum Spaß wie ihr. Ich will meine Frau rächen und dann ist Schluss!«

      Kieron zertritt unter schauerlichem Knirschen die Reste des zerschmetterten Schädels. Sein Lachen ist satanisch.

   »Nichts ist vorbei. So, wie du die Leute plattmachst, gehört das einfach zu deinem Leben! Der Krieg hat dich zum Killer gemacht, wenn du nicht schon vorher einer gewesen bist!«

   Dieses Killer-Gerede kenne ich schon von meinem Vater. Er hat alles gegeben, um mich zu einem zu erziehen, aber er hat versagt. Ich war im Krieg wie tausende andere und jetzt wehre ich mich gegen die Angriffe militanter Gegner, mehr nicht. Aber es wäre zwecklos, es diesen Bestien erklären zu wollen.

   »Wie viele seid ihr überhaupt?«, will ich wissen.

   »Ein paar Hundert, würd’ ich sagen.«

   »Ich meine, wie viele Kämpfer habt ihr?«

   Kieron kratzt seine grauen Bartstoppeln.

   »Zwei Dutzend vielleicht. Der Rest sind Kinder, die es noch nicht mit diesen Kapuzen aufnehmen können.«

   Ich schultere die Springfield und zeige auf die Toten und das brennende Kreuz.

   »Die ganze Sauerei muss verschwinden, damit morgen nicht auch noch die Cops hier rumschnüffeln. Der Klan wird mit drei, vier Trucks aufkreuzen und sicher zwanzig Mann mitbringen. Dazu ein MG auf jeder Ladefläche und jede Menge Maschinenpistolen. Die haben genug Geld und sind bestens ausgerüstet.«

   Der Gangsterboss reibt sich die Stirne.

   »Verflucht noch mal, du kannst einem ja richtig Mut machen, Mister! Wir sind zwar eine schlagkräftige Bande, aber wir können es mit keiner Armee aufnehmen. Die löschen uns aus!«

   Ich hinke zu ihm, denn mein Bein habe ich heute eindeutig überbelastet. Sehe ich da tatsächlich Angst in seinen Augen? Ich schnauze ihm mitten ins Gesicht.

   »Pisst du dir etwa in deine dreckigen Hosen, du Feigling? Reißt dein Maul auf, wenn du es mit Unbewaffneten zu tun hast, die du in aller Ruhe zu Tode foltern kannst. Aber wenn sie kommen, um euch erbärmlichen Widerlingen das Fell über die Ohren zu ziehen, dann hast du Schiss?«

   Kieron scheint seit langer Zeit wieder einmal nachzudenken. Er rollt die Augen, zuckt mit Schultern und Armen. Schließlich stammelt er:

   »Wir sind arm ... wir müssen uns selbst aus dem Dreck ziehen und die Gewalt ist unser tägliches Brot. Meine Männer sind keine Killer ... wir wollen nur alle überleben!«

   Ich ziehe den Peacemaker aus dem Gürtel und drücke den silbern glänzenden Lauf an seine Schläfe.

   »Mir kommen die Tränen, Kieron! Schon mal drüber nachgedacht, dass man auch überleben kann, ohne dafür andere umbringen zu müssen? Was ihr mit diesem Grady angestellt habt und was ihr mit Garçonne vorhattet, war eine sadistische Schweinerei! Dafür können euch die Kluxer gerne morgen Nacht reihenweise abschlachten!«

   Ich stecke den Revolver schließlich weg und packe mein Zeug zusammen.

   »Warum haust du ab? Ich dachte, du als Militär- und Klanexperte bleibst hier und sagst uns, wie wir diese Verrückten umlegen können?«

    Die Wut pocht in meinen Schläfen.

   »Das muss ich mir noch überlegen. Ich bekomme das Bild einfach nicht aus dem Kopf, wie du Garçonne das Messer zwischen die Beine gehalten hast!«

   Es ist wahrhaft elend anzusehen, wie dieser Mobster anfängt zu betteln. Er hat eine verdammt große Klappe, aber er überblickt die neue Situation und weiß, dass er ohne Hilfe in vierundzwanzig Stunden tot sein wird.

   Ich lasse mich überreden, kehre um und bekomme wenigstens ein bequemes Nachtlager. Seufzend lege ich mein Bein hoch und einen Colt unters Kopfkissen. Kaum habe ich die Augen geschlossen, höre ich Schritte. Da ich die Hände auf dem Bauch halte, ist der Revolver näher und ich reiße ihn unter der Decke nach oben.

   Es ist Aine, die rothaarige Irin.

   »Was ist mit deinem Bein, Mister? Kann ich irgendetwas gegen deine Schmerzen tun?«

   Sie fährt mit den Händen unter die Decke und landet in meinem Schoß.

   »Das ist nicht mein Bein, Aine. Nimm bitte deine Finger weg!«

    Sie lächelt gekränkt, zieht dennoch die Hand hervor.

   »Da bin ich anderer Meinung. Was hast du denn? Bist du etwa schüchtern?«

   Ich zögere. Dann verrate ich mein Geheimnis.

   »Ich liebe eine Tänzerin vom Broadway. Ich werde so lange keine andere Frau anrühren, bis wir zueinander finden oder sie mir sagt, dass es keine Chance für uns gibt!«

   Aine seufzt.

   »Oje, ich habe ein Herz für romantische Männer. Aber dass ausgerechnet du einer bist, hätte ich nicht gedacht. Unsere Leute nennen dich nur noch den ›Schlächter‹, seitdem sie sich das Gemetzel in dem kleinen Haus da drüben angesehen haben.«

   »Ich musste es tun, sonst hätten die mich erledigt. Ich kann nicht zu den Cops gehen, weil meine Beweise nicht ausreichen. Außerdem weiß ich nicht, wen der Klan inzwischen alles gekauft hat. In meiner Heimat gab es für den Mord an allen, deren Nase den Klansmen nicht passte, entweder Freispruch oder Bewährung, ganz selten auch mal ein Jahr Knast. Verstehst du das? Die haben überall ihre Leute und am Ende ist denen ein ganzer Staat ausgeliefert. Es gibt keinen Schutz mehr, keine Gerechtigkeit, nur noch den Wahnsinn des Klans! Ich bin im Süden aufgewachsen und weiß, was uns bevorsteht.«

   Aine schaut mich mit vor Schreck geweiteten Augen an.

   »Wie schaffen die das, so viele Leute für sich zu gewinnen?«

   Ich schüttle den Kopf.

   »Kleine, sie nutzen den Hass der Menschen für sich aus, schüren Vorurteile und Sorgen und spielen damit. Die sagen: ›Sieh dir den Neger, Juden, Katholiken, Bolschewisten an, der wird morgen dein Mädchen vergewaltigen.‹ Was macht einer, dessen Furcht erst einmal erwacht ist? Er rennt dem Klan in die Arme, setzt sich eine Kapuze auf und drischt auf seine Ängste ein, verbrennt sie, erschießt sie und kippt ihnen Säure über den Kopf!«

   Die Rothaarige setzt sich auf den Bettrand.

   »Sag mal, liebst du auch dieses Mädchen mit dem großen Schwanz?«

   Ich zucke bei der Deutlichkeit ihrer Worte zusammen.

   »Nein, ich hab sie sehr gerne, aber sie ist in eine Frau verliebt.«

   Aine versucht, einen unschuldigen Blick zu mimen, was ihr sogar recht gut gelingt.

   »Und diese Frau ist ganz zufällig deine schöne Tänzerin, wegen der ich dich nicht anfassen darf?«

   Ich seufze. Diese Frauen, immer müssen sie intuitiv in die schlimmsten Wunden fassen. Ich will endlich schlafen und drehe mich zur Wand.

   »Das war also ein ›Ja‹ «, haucht Aine.

   Leise geht sie aus dem Zimmer und schließt die Tür. Ich stehe auf und schiebe eine schwere Holzkiste vor den Eingang. Bei meinem todähnlichen Schlaf vermag ich nur von Lärm geweckt zu werden. Mit dem Revolver in der Hand, auf die leere Kammer eingestellt, wie es mich einst mein Vater gelehrt hatte, schlafe ich ein.

 


 

Harold Jordan: Der mörderische Mäzen

 

   »Wenn du so weiter machst, dann wird dir der Doc dein Bein bald absägen müssen!«

   Ich strecke mich stöhnend auf dem durchgelegenen Bett. Die Anstrengungen der letzten Monate waren zu viel für meine Kriegsverletzung. Die verfluchten Splitter sind wieder auf unheilvolle Wanderschaft gegangen.

   »Garçonne, du hast eine wundervolle Art, mir Mut zu machen.«

   Sie verzieht die tiefroten Lippen zu einem bittersüßen Lächeln.

   »Mister Jordan, Telefon für Sie, schnell!«, ruft jemand von draußen, der in hektischem Rhythmus gegen die Tür klopft.

   Schnell – schnell geht bei mir so gut wie gar nichts mehr. Stöhnend erhebe ich mich und hinke ins Lokal. Der Wirt reicht mir den schwarzen Hörer.

   »Hallo?«, brülle ich in die gewölbte Muschel.

   »Mister Jordan? Verflixt, schreien Sie doch nicht so! Hier ist Clarence Ross!«

Ich bemühe mich, leiser zu sprechen.

»Was wollen Sie?«

   »Ich will mich für Ihr Paket bedanken! Wir haben Wochen gebraucht, um alle Papiere auszuwerten. Wir sind jetzt soweit, dass wir Red Mike überzeugen konnten, dass der Klan in der Stadt eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt und wir öffentlich gegen ihn vorgehen müssen. Außerdem haben wir einen Journalisten von der New York Tribune auf unserer Seite! Schauen Sie unbedingt in die heutige Ausgabe und Sie werden staunen!«

   Ich bedanke mich für den Hinweis und reiche dem in erwartungsvoller Spannung verharrenden Wirt den Hörer. Dieser Mister Ross und seine schwarzen Kumpels lassen nicht locker. Wenn unser Bürgermeister – genannt Red Mike – erst einmal die Gefahr erkannt hat, wird dem Klan demnächst ein scharfer Wind entgegenwehen. Das gefällt mir. Ich gehe vor die Tür und winke dem Zeitungsjungen auf der anderen Straßenseite, dem ich eine Tribune abkaufe.

   Ich muss zugeben, dass ich als ehemaliger Verlagsbeschäftigter und gelegentlicher Journalist sehr wenig lese. Ich komme einfach nicht dazu. Entweder bin ich in Schießereien verwickelt, renne hypnotisiert der schönen Cynthia hinterher oder dämmere in irgendeinem Rausch vor mich hin.

   Neugierig schlage ich die Zeitung auf. Für eine Titelseite hat es nicht gereicht, aber im Innenteil geht es zur Sache. Eine große Zeichnung, die Klansmen in voller Kapuzentracht zeigt, erstreckt sich breit und ekelhaft über zwei Seiten. Im Artikel gibt es deutliche Worte. Der Journalist dürfte in wenigen Wochen tot sein, denn er schreckte nicht davor zurück, den sogenannten Großen Hexenmeister von Atlanta herauszufordern, der selbstverständlich alle Anschuldigungen mit salbungsvollen Worten zurückweist.

   Sogar Richter Telly droht dem Klan mit Konsequenzen, wenn sie im Staate New York gegen geltendes Recht verstoßen sollten. Noch bevor ich den Artikel zu Ende gelesen habe, ruft mich der Wirt erneut.

   »Mister Jordan! Telefon für Sie!«

   Verflucht, was ist denn heute nur los? Bin ich etwa über Nacht zu einer derart wichtigen Persönlichkeit Manhattans geworden, dass ich an einem Tag so oft angerufen werde wie sonst innerhalb eines Jahres? Ich lasse die aufgeschlagene Zeitung auf Kippen und Gläser sinken und erhebe mich ächzend.

   »Häng deinen verdammten Telefonkasten an die Wand hinter meinem Tisch, damit ich nicht ständig aufstehen muss!«, knurre ich den Wirt an.

   Der umklammert mit seinen schwarz behaarten Fingern den Hörer und drückt ihn mir entgegen.

   »Hallo!«, rede ich dieses Mal gedämpfter in die Sprechmuschel, um dem unbekannten Anrufer am anderen Ende keinen Gehörschaden zuzufügen.

   »Hallo, Mister Writer! Hier ist Cynthia!”

    Mein Herz scheint beim Klang ihrer Stimme einen Augenblick lang auszusetzen.

   »Cynthia? Mein Gott, wo steckst du – äh, wo stecken Sie, meine ich? Ich habe eine Ewigkeit nichts mehr von Ihnen gehört!«

   »Ich bin in East Egg auf Long Island. Hal, bitte entschuldigen Sie, dass ich so plötzlich verschwunden war. Ich erkläre es Ihnen später. Ich möchte Sie um etwas bitten!«

   Ich bin verwirrt, breite reflexartig meinen freien Arm aus und schlage versehentlich einem Thekengast unters Kinn, der seinen Drink aus der Hand fallen lässt.

   »Verdammter Dreckskerl, ich mach dich kalt! Was erlaubst du dir?«, brüllt der zu Unrecht Geschlagene.

   »Was ist denn bei Ihnen los, welch furchtbarer Lärm!«, fragt Cynthia mit besorgter Stimme.

   »Einen kleinen Moment, bitte!«, erwidere ich und halte den Telefonhörer beiseite.

   »Verzeihen Sie, Mister, es war ein Versehen. Ich bezahle Ihren Drink selbstverständlich und gebe Ihnen einen neuen aus.«

   Der Kerl springt vom Stuhl und baut sich vor mir auf. Er will unbedingt Ärger. Ich schlage mein Sakko zur Seite, tippe auf den Griff meines Colts und das Heft eines Bowiemessers, die ich in den Gürtelhalftern trage, und telefoniere ruhig weiter. Der geschlagene Gast weicht zurück und klettert am Ende der Theke auf einen anderen der hohen Stühle. Dieser Konflikt wäre beigelegt.

   »So, ich bin wieder ganz Ohr, Sie dürfen mich um alles bitten, was Sie wollen, Cynthia!«

   »Fein! Also kommen Sie bitte in zwei Tagen ins Hotel Embassy am Broadway, 70te Straße. Dort findet eine Kunstausstellung in der Halle statt. Wir treffen uns da. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden!«

   Eine Kunstausstellung? Ich verstehe nicht. Aber so nervös, wie ihre Stimme klingt, wird Cynthia jetzt keine Zeit für meine Fragen haben.

   »In Ordnung, ich werde da sein!«

   »Gut, bis bald!«, flötet sie und kann dennoch ihre offensichtliche Sorge nicht verbergen.

   »Ich liebe Sie, Cynthia.«

   Es knackt im Hörer und die Verbindung ist beendet. Wie dumm von mir, mich von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen. In meinem Kopf geht alles durcheinander. Cynthia verschwindet über einen Monat ohne eine Nachricht, ist am äußersten Ende von New York am Atlantik und übermorgen auf einer Kunstausstellung. Was hat das alles zu bedeuten?

   »Was geht ab, du Killer?«

   Jemand klopft mir auf die Schulter. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Garçonne zu mir herangetreten war.

   »Ach, ich hänge noch den ganzen Tag an diesem verfluchten Telefon.«

    Sie schaut mich mit spöttischem Gesichtsausdruck an und versorgt uns mit Zigaretten aus ihrem goldenen Etui.

    »Bist du jetzt Geschäftsmann oder was?«

      Die hohe Flamme ihres Feuerzeugs verbrennt mir beinahe die Nasenspitze.

   »Unsinn, Cynthia hat angerufen.«

      Ich sehe Garçonne aus zusammengekniffenen Augen an. Sie zuckt, als habe sie einen Klaps auf den Hinterkopf bekommen. Ihre Wangenknochen arbeiten unter der weißen Puderschicht. Garçonne versucht, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.

   »Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich noch einmal melden würde, seitdem sie einfach vom Broadway verschwunden ist. Darf ich erfahren, was es Neues gibt?«

   Die kleine Frau drängt mich zum Tisch, wo wir uns beide setzen. Garçonne verschränkt die Arme und balanciert die Zigarettenspitze zwischen den vollen Lippen. Anscheinend können wir inzwischen über die schöne Tänzerin reden, ohne dass dabei Gläser, Messer oder Schuhe geworfen werden müssen. Beruhigt über diese positive Entwicklung lehne ich mich zurück.

   »Cynthia ist auf East Egg, keine Ahnung, was sie dorthin verschlagen hat. Ich soll in zwei Tagen ins Hotel Embassy zu einer Kunstausstellung kommen und sie dort treffen. Es gibt irgendetwas Wichtiges, über das sie am Telefon nicht reden wollte.«

Garçonne zieht beleidigt die Oberlippe hoch und erwidert mit exaltierter Betonung:

   »Dann geh du mal schön in die Ausstellung und triff dich mit deiner Cynthia!«

   Ich verdrehe die Augen.

   »Garçonne, bitte lass das! Wir gehen beide hin. Besorg mir einen Rollstuhl, weil ich nicht so lange stehen kann. Außerdem schadet es sicherlich nicht, wenn mich da draußen ein paar Leute hilfloser sehen werden, als ich tatsächlich bin. Ich habe ständig das Gefühl, dass sie mich beobachten.«

   Garçonne nimmt die Zigarette aus dem Mund, presst die verschränkten Arme an den Körper und lässt ihr trotziges Kinn in den Pelz des Mantelkragens eintauchen.

   »Keine üble Idee, dich als Möchtegern-Invaliden durch die Gegend zu schieben. Vielleicht locken wir ein paar heimliche Vögelchen hervor, wenn sie denken, dass du im Arsch bist.«

   Ich nicke und kippe mir ein Glas Whiskey herunter. Die Zeit ohne die reizende Tänzerin scheint uns beiden recht gut getan zu haben, um unsere Gefühle inzwischen ordnen zu können. Wir dürfen uns nicht aus Konkurrenz um diese Frau gegenseitig zerstören. Trotzdem sehe ich dem Tag des Wiedersehens mit erheblicher Unruhe entgegen, denn keiner kann vorausahnen, ob unsere Rivalität nicht wieder von neuem aufflammen wird.

~

   »Willst du dich gleich in den Rollstuhl setzen oder doch lieber vorne im Auto mitfahren?«, scherzt Garçonne und wuchtet das Gefährt auf die Ladefläche des Ford TT.

   »So einfach mache ich dir das nicht, mich loszuwerden! Du fährst eine scharfe Kurve, ich werde samt Rollstuhl vom Truck geschleudert und höchstwahrscheinlich auch noch von einer Tram überrollt.«

   Garçonne lacht frech. Die warme Frühlingssonne neckt ihr hübsches Gesicht und sie blinzelt mir entgegen.

   »Was könnte ich denn dafür, wenn du dich nicht richtig festhalten würdest?«

   Zum Lachen ist mir überhaupt nicht zumute. Das liegt nicht am Wiedersehen mit Cynthia, das mich mit Hoffnung und Schwermut erfüllt, sondern an einem gewissen Henry Burns. Garçonne und ich haben uns etwas umgehört und herausbekommen, dass sich dieser geheimnisvolle Mister aus Houston in einer der teuersten Suiten des Hotels eingemietet hat und vorgibt, ein Kunstmäzen zu sein. In Wirklichkeit arbeitet er für den Kopf des Klan in New York – den cyclop – der die Nordinvasion und das Anwerben neuer Mitglieder in unserem Staat vorantreiben soll. Der Kleagel selbst wohnt Gerüchten nach ebenfalls in diesem Hotel, doch er hält sich vollständig vor der Öffentlichkeit verborgen.

   Vor Burns hatte mich Big Red eindringlich gewarnt, als ich ihm bei unserem Familientreffen den Peacemaker an die Schläfe drückte. Die Bezeichnung ›mein Vater‹ will mir nicht mehr gelingen, seitdem ich weiß, dass er in die Ermordung meiner Frau verwickelt war.

   Anscheinend reist Mister Burns ständig zwischen Manhattan und Long Island hin und her, da es ihm vermutlich zu riskant erscheint, sich dauerhaft an einem Ort aufzuhalten. Er gab damals den Befehl, die beiden Klan-Killer auf meine Esther zu hetzen, nachdem dieser feige Mord einstimmig von den Ordensbrüdern beschlossen worden war. Es wird mich ungeheure Kraft kosten, den Kerl nicht an Ort und Stelle zu erschießen. Doch ich will sie alle! Alle, die für den Mord gestimmt hatten.

   Als mich Garçonne im Rollstuhl auf die Eingangstür des Hotels zuschiebt, überschlagen sich die Empfangsboys, die Flügel bis zum Äußersten aufzureißen, unterdessen sie meine hübsche Begleiterin mit ihren Blicken zu verschlingen scheinen. Sie trägt ein hochgeschlossenes, schwarzes Tüllkleid mit langen Ärmeln, das mit einem Strand von Perlen bedeckt ist. Die eleganten Pumps glänzen. Bei jedem Schritt klappern die blitzenden Schnallen darauf, deren groteskes Totenkopfgrinsen nur demjenigen auffallen kann, der sich nicht von Garçonnes durchscheinenden Brustspitzen oder dem gewagten Rückendekolleté ablenken lässt.

   Den enganliegenden Hut krönen ein paar aufrechtstehende Federn, die ihre zierliche Gestalt etwas größer erscheinen lassen. Das Gesicht verbirgt sie wie immer unter einer weißen Schicht Puder und etwas Rouge, während die Lippen mit einem blutroten Lächeln bezaubern. Sie ist wahrhaftig eine wunderschöne Frau. Kein Mensch käme auf die Idee, was sich tatsächlich unter dem glattgezogenen Rockschoß verbirgt. Am allerwenigstens dürfte Cynthia damit rechnen.

   Ich selbst habe meine alte Uniformjacke übergezogen und die Orden angesteckt. Dazu trage ich ein Militärkäppi und ein paar altmodische Hosen, die weit genug sind, um die prall gefüllten Halfter an Knöcheln und Beinen zu verbergen.

   Kaum haben wir uns ein paar Meter voranbewegt, wird uns eifrig Champagner gereicht.

   »Herzlich willkommen, welch eine Freude, einen dekorierten Veteranen empfangen zu können, der so feinen Kunstsinn offenbart!«

   Nun steht er vor mir: Henry Burns, ein Teufel in Menschengestalt. Der Name aus den Unterlagen des Klans hat somit ein Gesicht bekommen. Sein schmaler Oberlippenbart zuckt in den Spitzen, die Wolfsaugen durchbohren mich, als wüsste er genau, wen er hier vor sich hat. In Gentlemanmanier begrüßt er Garçonne und starrt auf die spitzen Hügel ihrer Brüste, die vom Lasso der Perlenketten umfangen werden. Dann geben wir uns die Hände und es durchfährt mich eiskalt, als ich diesen Widerling berühre.

   Burns postiert sich auf einem kleinen Podest und schlägt mit einem Löffelchen gegen sein Champagnerglas. Meine Blicke schweifen umher. Wo ist Cynthia? Ich kann sie nirgends entdecken. Der Wolfsäugige beginnt mit der Rede:

   »Verehrte Kunstliebhaber, ich habe heute die ganz besondere Ehre, Ihnen eine kleine Auswahl von Werken einer exzellenten Künstlerin der Pariser Avantgarde präsentieren zu können. Aber nicht nur diese sensationellen Gemälde, nein auch die Künstlerin selbst hat den Weg in unsere Stadt gefunden. Hier ist sie nun im wunderschönen New York: die hinreißende, unvergleichliche Tajana!«

   Lautstarker Applaus brandet auf. Da hat dieser verfluchte Burns den Mund in der Tat nicht zu voll genommen. Fassungslos schaue ich zur großen, kühlen Kupferhaarigen, die in stolzer Haltung ihre Huldigung entgegennimmt. Ihre schweren Augenlider sind halb geschlossen und werden von langen, schwarzen Wimpern umschattet. Das kurze Haar ist in Wellen gelegt, entblößt ihren zarten Nacken und das blendend weiße Dekolleté. Die geschwungenen, sinnlichen Lippen des himbeerfarben geschminkten Mundes scheinen einzig zu einem Zweck erschaffen zu sein: zum Verabreichen betörender Küsse.

   Mir wird instinktiv klar, weshalb Tajana die Lider nicht ganz geöffnet hält: Sie würde alle mit ihrer Leidenschaft verbrennen, die aus ihren Augen so wild hervorlodert. Der Beifall will nicht enden, sodass Mister Burns mehrmals beschwichtigend gegen das Glas schlagen muss, um erneut das Wort ergreifen zu können.

   »Das jüngste Werk ist zugleich eines der ausdrucksstärksten. Es ist gerade erst vollendet worden und trägt den geheimnisvollen Titel: ›Salomé mit dem Schleier‹!«

   Ein Raunen geht durch die Menge, als Burns den Blick auf ein großformatiges Gemälde freigibt. Es zeigt eine schlanke, schreitende Schönheit, die ihr vorderes Bein aus dem Bild herauszubewegen scheint. Sie hebt einen Arm, um damit ihren Kopf oberhalb der Augen zu verdecken, die ozeanblaue Schwermut, Überdruss und sinnliche Herausforderung ausstrahlen. Sie zieht dabei eine der enormen Brüste empor, die der wallende Schleier unverhüllt lässt. Die andere Hand, mit der die gemalte Schöne dank der künstlerischen Meisterschaft in den Raum hineinlangt, ist rot von Blut. Im Hintergrund schimmert in merkwürdig geometrischen Formen ein Tablett mit einem abgetrennten Kopf.

   Ich verstehe nichts von Kunst, aber bin mir sicher, hier etwas Einmaliges zu sehen. Genau wie die Malerin selbst strahlt die Gestalt der üppigen Salomé Kühle und andererseits ein erotisches Feuer aus, das sich nicht ohne tiefere Überlegungen erklären lassen dürfte.

   Dem Getuschel ringsum kann ich entnehmen, dass der falsche Kunstmäzen mit diesem Bild die Favoritin seines Harems auf Long Island hat porträtieren lassen, mit der inzwischen verlobt sei. Mir an seiner Stelle würde es zu denken geben, dass sie als eine antike Rächerin dargestellt wurde. Aber Mister Burns in seiner unantastbaren Selbstherrlichkeit wird sicher keinen Gedanken daran verschwendet haben.

   Er ergänzt seine Ankündigung um eine weitere kleine Sensation:

   »Bitte beachten Sie auch das erste Bild von Tajanas neuer, reizender Schülerin: Cynthia!«

   Burns tritt einen Schritt beiseite und deutet auf ein kleinformatiges Gemälde. Daneben steht in frischer, blühendster Schönheit unsere geliebte Tänzerin. Unaufhaltsam schiebt mich Garçonne mit dem Rollstuhl langsam durch die applaudierenden Reihen. Ich bin fasziniert und erschrocken zugleich. Cynthias Werk zeigt das Porträt eines ernstblickenden Mannes, dessen harte Züge Verbitterung, aber auch Entschlossenheit ausstrahlen.

   »Komisch, Writer, der Kerl auf dem Bild sieht genauso deprimiert aus wie du«, meint Garçonne und stoppt genau vor Cynthia.

   Wir starren uns an. In ihrem roten Seidenkleid erscheint sie mir wie eine Frühlingsblume. Cynthias zauberhafter Anblick verschlägt uns die Sprache, bis sich Garçonne als Erste besinnt.

   »Hi, Cynthia, lange nicht gesehen! Bist du jetzt unter die Künstlerinnen gegangen?«

   Ihre Stimme bebt.

   »Ich freue mich sehr, euch beide wiederzusehen! Was ist mit Ihnen passiert, Mister Jordan?«, fragt sie und mustert mich sowie den Rollstuhl mit besorgter Miene.

   Ich winke ab.

   »Nur die Splitter. Es sieht schlimmer aus, als es ist!«

   Cynthia nickt mit zweifelndem Gesichtsausdruck.

    »Wir treffen uns, sobald der erste Run der Besucher vorbei ist«, erwidert sie und setzt ein offizielles Lächeln auf.

   Ich komme gar nicht mehr zu Wort, denn plötzlich drängen sich zahlreiche Leute zwischen uns und Cynthia, die sie mit Fragen überhäufen. Die große Malerin mit dem kupferroten Haar steht lächelnd etwas abseits und raucht in eleganter Pose. Schließlich wird sie herangewinkt und schreitet an die Seite ihrer Schülerin. Sie umfasst Cynthias Taille mit einer intimen Geste. Nur einen kurzen Moment sehen sich die beiden Frauen in die Augen, aber es genügt, um Garçonne die Zornesröte ins Gesicht zu treiben.

   »Diese verfluchte Hure von Malerin fickt meine Cynthia!«, zischt sie unbeherrscht durch die Zähne.

   »Sei leise, reiß dich zusammen, lass ein einziges Mal deine lästigen Eifersüchteleien!«, empöre ich mich halblaut.

   Wir haben Glück, dass uns in diesem Tumult niemand hören kann. Garçonne schlägt wütend mit den flachen Händen auf die Griffe des Rollstuhls.

   »Los, fahr uns zum Büffet, bevor die Meute das Interesse von den beiden Frauen auf das Essen lenkt!«, fordere ich sie auf.

   Garçonne schnaubt wie ein Stier und nimmt in hohem Tempo Kurs auf die mit Leckereien beladenen Tische. Wir langen kräftig zu, denn unser Frühstück bestand wie so häufig zum größten Teil aus flüssiger, überwiegend hochprozentiger Nahrung. Zwischendurch versuche ich, an die Vernunft dieser emotional geladenen Frau zu appellieren. Cynthia hat weder mit ihr, noch mit mir eine feste Beziehung. Es ist ganz alleine ihre Sache, mit wem sie das Bett teilt.

   Ich habe das Gefühl, dass mir Garçonne überhaupt nicht zuhört. Sie zieht ein langes Messer unter ihrem Kleid hervor und entkorkt damit eine Champagnerflasche.

   »Bist du des Wahnsinns, steck deine Waffe weg! Wir dürfen hier nicht auffallen, du setzt alles aufs Spiel mit deiner kindischen Wut!«

   Doch die kleine Frau scheint vor Eifersucht außer Kontrolle zu geraten. Sie setzt die Flasche an die roten Lippen und trinkt einen gewaltigen Schluck.

   »Hey, Lady!«, brummt plötzlich eine tiefe Stimme.

   Ein riesiger Kerl, der in seinem Anzug mit der darunter verborgenen Maschinenpistole wie ein aufgeblähter Kasten aussieht, tippt ihr auf die Schulter.

   »Wenn Sie sich hier nicht benehmen können, dann verlassen wir beide die Halle, ist das klar?«, droht er mit finsterer Miene.

   Ich falle Garçonne unverzüglich ins Wort und entschuldige mich für ihr Benehmen.

   »Bitte haben Sie Nachsicht mit ihr, sie ist doch meine Fahrerin und ohne sie bin ich hilflos!«, lamentiere ich und deute auf meine Beine.

   »Dann behalten Sie Ihre Fahrerin besser unter Kontrolle, ansonsten werde ich mich um die Lady kümmern und auch Sie werden niemanden mehr brauchen, der Sie fährt!«

   Mit einem Knurren entfernt sich der Eisenfresser. Ich erspare mir jeden Kommentar. Wir essen schweigend die Häppchen und warten auf Cynthia. Nach beinahe einer Stunde fliehen wir vom Büffet, als die kunstfanatischen Herrschaften ihr Interesse von den Gemälden und Malerinnen auf das kulinarische Angebot verlagern. Der Tisch, an dem wir uns zu schaffen gemacht hatten, ist bis auf einige Reste geplündert. Wir hinterlassen einen Haufen Obstkerne, Gräten, Geflügelknochen, Muschelschalen und ein paar mit Kippen angefüllte Gläser. Ich wische mir noch rasch Mund und Finger ab, schnippe die zusammengeknüllte Serviette auf einen der leeren Teller und lasse mich von Garçonne zu Cynthia schieben.

  »Wo können wir ungestört reden?«, frage ich und versuche, mir meine Erregung nicht anmerken zu lassen, als ich der Frau meines Herzens erneut begegne.

   »Wir gehen in die Hotelbar!«, schlägt Cynthia vor.

   Wir belegen den hintersten Tisch an der Wand und bestellen White-Lady-Cocktails. Ich bin mit dem Rollstuhl herangefahren, Garçonne sitzt neben mir und Cynthia uns gegenüber auf der Bank. Bei jeder ihrer Bewegungen schwebt der schwere, süße Rosenduft herüber, den ich schon viel zu lange entbehren musste und der mich in meinen Träumen begleitet.

   »Cynthia, was haben Sie mit diesem widerlichen Mister Burns zu schaffen?«, frage ich, nachdem meine anfängliche Starre überwunden ist.

   »Ich wohne mit Tajana unter seinem Dach. Er hat zwei Porträts bei ihr bestellt und ich begleite die Malerin. Das Problem ist nur, dass wir Gäste eines Verbrechers sind. Wir haben es von Louise, seiner Verlobten, erfahren.«

   Der Cocktail reizt meine Geschmacksnerven, weil er offenbar ein paar Spritzer zu viel Zitronensaft abbekommen hat. Ich verziehe den Mund und erzähle ihr vom Klan, von der Nordinvasion und der Rolle, die Mister Burns dabei innezuhaben scheint.

   »Er hat aber nicht nur hier seine Finger im Spiel, sondern auch in Oklahoma. Dort wird irgendetwas vorbereitet, ein Anschlag oder ein Aufstand. Tajana beginnt morgen, am Porträt von Mister Burns zu arbeiten. Dann haben Louise und ich die Möglichkeit, uns etwas ungestörter umzusehen.«

   Ich knalle kopfschüttelnd das Cocktailglas auf den Tisch.

   »Nein, das tust du nicht, Cynthia! Die werden euch beide umbringen, wenn ihr euch erwischen lasst!«

   Mit vor Schreck geweiteten Augen schaut sie mich an. Jetzt fällt mir auf, dass ich dieses alberne ›Sie‹ vergessen habe. Die Tänzerin beugt sich vor, legt behutsam ihre zarte Hand auf die meine.

   »Hal, wir werden aufpassen. Ich muss es versuchen, vielleicht können wir dadurch sogar Leben retten!«

   Ich verstehe nicht.

   »Wie soll das gehen? Falls ihr etwas herausfinden solltet, wie wollt ihr ein Unglück in einem Ort verhindern, der weit über eintausend Meilen entfernt ist?«

   Cynthia senkt die Blicke, doch ich habe das verdächtige Leuchten in ihren Augen längst bemerkt.

   »Das stimmt, Harold, und genau da kommst du ins Spiel!«, flüstert sie mit beschwörender Stimme und ich ahne, was sich diese junge Frau hinter ihrer hübschen Stirn ausgedacht hat.

   Ich schnappe nach Luft, verschlucke den Protest, der sich wegen der Nennung meines Namens in mir regt. Mühsam reihe ich Worte für eine Antwort aneinander, die gegen den weitaus schlimmeren Verdacht der Tragweite ihrer Pläne gerichtet ist:

   »Das geht mich nichts an. Ich will den Tod meiner Frau rächen, sonst nichts. Ich greife mir diesen Burns und die anderen Kerle, die ihre Ermordung in Auftrag gegeben haben. Vielleicht kommt dadurch sogar die Invasion in New York ins Stocken, aber es wäre Wahnsinn zu glauben, den Klan aufhalten zu können!«

   Cynthia drückt meine Hand und sieht mir ins Gesicht. Ihre Entschlossenheit ist beängstigend.

   »Es geht uns alle etwas an! Was in Oklahoma geplant ist, kann auch hier der nächste Schritt sein! Würde es Esther gefallen, wenn sie wüsste, dass du ihren Mördern freie Hand lässt, nur weil sie ihren Schrecken erst einmal außerhalb von New York verbreiten? Du hast kein reines Gewissen mehr und kannst nicht ohne Schuld wegsehen, weil ich es dir heute gesagt habe!«

   Die Frau schafft mich. Sie trifft eine empfindliche Stelle in mir. Trotz meiner Selbstverachtung und dem Wunsch, nach vollzogener Rache endlich selbst den Tod finden zu können, habe ich immer noch ein Gewissen. Diese schöne Tänzerin, die eigentlich nur eine Broadwaykarriere im Kopf haben sollte, riskiert ihr Leben für die karge Hoffnung, irgendwelchen Menschen zu helfen, die sie nicht einmal kennt.

   Cynthia bedrängt mich weiter, dass ich den großen Zusammenhang sehen muss. Was morgen anderswo passiert, könnte übermorgen schon vor unserer Haustüre geschehen. Endlich gebe ich meinen Widerstand auf.

   »Wenn wir etwas in Erfahrung gebracht haben, rufen wir dich an! Tajana und ich können manchmal einen Spaziergang unternehmen und von einem kleinen Gasthof aus telefonieren«, beendet Cynthia unsere Abmachung.

  Garçonne hat währenddessen eine Zigarette nach der anderen geraucht. Als wir unsere Blicke auf sie richten, schüttelt sie nur ihren bobfrisierten Kopf.

   »Das ist wirklich alles ziemlich bescheuert, aber ja, ich mach den Irrsinn mit!«

   Die Tänzerin schaut zur Tür. Ich drehe mich um. Dort steht Tajana, verlockend und geheimnisvoll, und reckt ihre makellose Silhouette gegen das grelle Licht außerhalb der Bar. Cynthia steht auf, verabschiedet sich von uns mit einem Kuss auf den Mund und eilt zu ihr. Garçonne und ich bleiben zurück im betörenden Aroma dieser außergewöhnlichen Frau, der wir beide auf Gedeih und Verderb verfallen sind.

 

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