Kapitel Einundvierzig
Nur für einen Moment hebe ich die Lider, und sofort dringt grelles Licht in meine Pupillen. Ich bin tot. Ganz sicher. Das ist das Licht, von dem alle reden. Blutverschmierte Handschuhe fuchteln vor mir herum. Mein Gott, sie haben mich aufgeschnitten und lassen mich verbluten wie ein abgestochenes Schwein. Es tut so weh. Ich stoße einen schrillen Schrei aus, der mein Trommelfell zu zerbersten droht. Beruhigende Worte folgen, eine kühle Hand, die auf meiner Stirn ruht, ein Gesicht, das ich nur verzerrt wahrnehme, und dann der Todesstoß, ich halte die Luft an. »Pressen, Sie müssen pressen«, spricht die sanfte Stimme einer Frau mir ermutigend zu.
»Atmen, ganz tief atmen, so ist es gut. Und jetzt pressen. Sie machen das gut, nur weiter so.«
Ich presse so sehr, dass ich fürchte, mir werden gleich die Augen hervortreten. Lieber würde ich mich auf den Kopf stellen und mit meinem Hintern Fliegen fangen, als diese erbärmlichen Schmerzen zu ertragen. Das muss aufhören, ich halte es nicht aus.
»So, auf drei noch einmal pressen. In Ordnung, Frau Berg?«
Ich schüttle den Kopf wild hin und her und doch meine ich ja.
»Eins. Zwei und drei.«
Ein gewaltiges, animalisches Brüllen dringt aus mir heraus. Dann herrscht plötzlich Stille. Warum sagt keiner etwas? Ich reiße die Augen auf und versuche, in das Gesicht der Frau mit der beruhigenden Stimme zu sehen. »Das Baby? Was ist mit dem Baby?«, krächze ich mühsam. Die Frau lächelt mich an und hebt ein verkleistertes, schmieriges Baby hoch. »Es ist ein Junge, Frau Berg.« Ich strecke meine Arme nach ihm aus. Ich will ihn unbedingt halten, meinen Sohn.
Da liegt dieses kleine Bündel in seiner Wiege und atmet ruhig und gleichmäßig ein und aus. Ich bin die glücklichste Frau der Welt. Ich habe einen Sohn geboren. Sein Name ist Lucas Berg. Eine Woche ist er jetzt alt, und ich liebe ihn. Mein Vater wäre so stolz auf seinen Enkel und mich gewesen, und ich bin glücklich, dass es ein Junge geworden ist, wie ich es Carl versprochen habe.
Ich muss ihn immer wieder ansehen, an ihm schnuppern und diesen wundervollen, unvergleichlichen Baby-Duft tief einatmen. So wie es die Tiere machen, damit sie ihre Nachkommen am Geruch erkennen, so mache ich es auch, und es ist wunderbar.
»Anne, lass ihn schlafen. Du solltest dich auch ausruhen, er wird schon nicht weglaufen.«
»Ist er nicht perfekt?« Nach Zustimmung heischend blicke ich Robert fragend an.
Kühl und distanziert antwortet er: »Ja, er sieht ganz passabel aus.«,
»Passabel? Nein, er ist perfekt.«
»Anne, ich bitte dich, dein Verhalten wird langsam pathologisch.«
»Das macht nichts. Willst du ihn nicht mal halten? Du hast ihn noch nicht ein einziges Mal auf dem Arm gehabt, außer im Krankenhaus kurz nach der Geburt. Aber du hättest mal dein Gesicht dabei sehen sollen. Als würdest du eine tickende Bombe halten.«
Wir starren uns an, beide bemüht, nicht die Kontrolle zu verlieren. Roberts Unterkiefer arbeitet mahlend. Ich kenn dieses Anzeichen nur zu gut, wenn er kurz davor ist, zu explodieren. Aber dann atmet er bewusst langsam aus.
»Nein, nicht jetzt. Ich will ihn nicht wecken und außerdem muss ich jetzt in die Klinik.« Ohne noch einen Blick auf seinen Sohn zu werfen, verlässt er eiligst das Zimmer. Im Flur ruft er: »Warte heute nicht auf mich, es wird spät werden! Ich will noch zur Baustelle und anschließend mit Phillip einiges besprechen.« Laut fällt die Tür ins Schloss. Ich muss meinen Drang, ihm hinterherzulaufen, mit aller Macht unterdrücken.
Ich habe unser Gespräch vor der Geburt nicht vergessen und es nur für eine Weile verdrängt. Aber jetzt ist die schmerzhafte Erinnerung daran zurückgekehrt. Ich hätte ihm seine Liebesbeteuerungen fast abgenommen. Doch bei seinem steinernen Gesichtsausdruck, den er aufsetzte, als er Lucas das erste Mal nach der Geburt in den Arm nahm, war ich zutiefst schockiert. Ich erinnere mich daran, wie ich versuchte, mir sein Verhalten schönzureden, indem ich mir sagte, Männer würden auf Neugeborene anders als Frauen reagieren. Lucas war gerade erst eine Stunde alt, ich hielt ihn im Arm und war immer noch überwältigt von diesem Wunder, und Robert saß brav auf der Bettkante und spielte den stolzen Vater. Jedes Mal, wenn die Schwester ins Zimmer kam, widmete er seine ganze Aufmerksamkeit dem Baby. Zunächst war mir das gar nicht aufgefallen, aber als dann meine Schwester und Mark uns im Krankenhaus besuchten, traute ich meinen Augen und Ohren nicht.
»Kommt, begrüßt meinen Sohn. Ist er nicht ein Prachtkerl?«, empfing Robert die beiden mit theatralischer Geste.
Alexandra blickte Robert verunsichert an, sodass er ihr aufmunternd zuzwinkerte und ihnen bedeutete, ruhig näher zu kommen. Vorsichtig, als fürchtete sie, etwas zu zerstören, kam sie einen Schritt näher. Als sie sah, wie Lucas sich an meine Brust schmiegte, fing sie an zu weinen. Mark legte tröstend seinen Arm um ihre Schulter und sagte besorgt: »Willst du das wirklich, Alexandra?« Seine Angst, sie könnte zusammenklappen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Alexandra trat vorsichtig zu mir an das Bett, ihre Tränen trockneten und ein Strahlen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie sah so schön aus, so lebendig und voller Zuversicht. Ich war glücklich, sie so zu sehen.
»Anne, das ist das schönste Kind, das ich jemals gesehen habe.« Dabei betrachtet sie die ganze Zeit nur Lucas und würdigte mich keines Blickes. »Sieh nur, Mark, ist er nicht wunderbar? So klein und doch so perfekt.« Mark schien sich nicht wohlzufühlen, er beugte sich unbeholfen zu Lucas hinab, und ich legt instinktiv schützend meine Hand über dessen Kopf. Robert hatte sich auf den Besucherstuhl in der Ecke gesetzt und beobachtet das ganze Theater. Was auch immer in seinem Kopf herumging, Vaterstolz war bestimmt nicht mit im Spiel.
Lucas leises Wimmern unterbricht meine trüben Gedanken. Ich nehme ihn hoch und setzte mich auf den Schaukelstuhl. Ihn zu spüren, ist Entschädigung für alles. Ich schaukle uns in einer Art Trance, die so schön und leicht ist, dass ich mich bald in einem Traum wiederfinde.
Stahlblauer Himmel, von dem eine wärmende Sonne scheint, eine grüne, saftige Wiese, auf der wir eine Decke ausgebreitet haben und unser Picknick genießen. Robert tollt mit Lucas herum, stemmt ihn hoch in die Luft, lässt ihn los und fängt ihn sofort auf. Lucas quietscht vor Vergnügen. Robert wirft ihn wieder hoch, fängt ihn und dann noch einmal, noch höher und noch höher. Lucas schreit. Robert lacht wie irre und ich sehe Lucas hoch oben in der Luft. Er zappelt und landet hart in Roberts Armen. Dieser wirft Lucas noch einmal hoch, viel zu hoch. Robert dreht sich um und geht einfach fort. Lucas taumelt immer tiefer, dem harten Boden gefährlich nahe. Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin an Armen und Beinen gefesselt. Mit Entsetzen sehe ich meinen Sohn der Erde immer näher kommen. Ich versuche, zu schreien, doch kein Ton kommt aus meinem offenen Mund.
Schweißnass schrecke ich hoch. Lucas liegt schlafend in meinen Armen.
Ende der Leseprobe
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